8. Juli 2021

Panoramen

Gehen wir ein Stück, lieber Onkel? Jetzt, da die Vergangenheit ins Präsens drängt. Dringlich und heftig. Wenn wieder die Landmaschinen vor den Scheunen stehen, die alten Traktoren, und vor den kleinen Höfen die Pferdegespanne, die Ackergäule, alte Klepper, ausgemustert schon lange, aber noch am Futter. Beträchtlich der Unterschied von Sonntag zu Werktag. Von Winter zu Sommer. Am Sonntag zur Messe und den ganzen Tag über den Sonntag heiligen. Nur die allernötigsten Arbeiten auf dem Hof verrichten, die Tiere besorgen, das schon, wenig Lärm machen, nicht unnötig Maschinen einsetzen, am Nachmittag kurz schlafen, dann spazieren. Der Blick über die Gartenzäune der andern. In die Kuhställe der andern spähen. Ihre Äcker begutachten. Und die Ordnung auf dem Hof. Neid und Missgunst muss man beichten. Im Winter manchmal sich schon vormittags ein wenig aufwärmen auf der Sitzbank des Kachelofens, nachmittags ohnehin. Ab und zu ein Schläfchen auf der Eckbank. Nach- und vorschlafen. Ein wenig an Gewicht zulegen. Kräfte sammeln. Für die langen langen Werktage des Frühjahrs und des Sommers. 
Gehen wir ein paar Schritte? Dem Eschbach entlang? Am Leibundgut-Haus vorbei? Leibundgut, so würde ich gerne heissen. What’s into a name? Der Jakob Leibundgut hat dreimal geheiratet und hat alle drei Ehefrauen überlebt. Die erste, Kathy, starb am Herd. Sie sank plötzlich um, während sie in einem Milchreis rührte. Herzinfarkt. Die zweite, Ida, übernahm die vier Kinder, die schon da waren und gebar dem Jakob noch fünf weitere. Als die Jüngste neun war, verunfallte sie. Einer ihrer Zimmerherren stieg angetrunken ins Auto, um Ida zum Bahnhof zu bringen. Er erwischte die Linkskurve bei der Käserei nicht. Ida wurde aus dem Auto geschleudert, nicht angegurtet, versteht sich, sie lag eine Weile im Krankenhaus, ohne je wieder zu sich zu kommen, dann starb sie. Die dritte Ehefrau hiess Silvia und das ganze Dorf wunderte sich, dass es Jakob nochmals wissen wollte. Ein später Bräutigam, seine Kinder bereits alle aus dem Haus, sie besuchten ihren Vater regelmässig und schaute zum Rechten in Haus und Garten. Jakob wäre ganz gut ohne ein Weibervolk über die Runde gekommen, fand das Dorf, aber er ging nochmals auf Freiers Füssen und heiratete schliesslich diese Silvia, die er, wer weiss wo, kennen gelernt hatte. Kaum mit ihr verheiratet, durfte er sonntags nicht mehr ins Wirtshaus, er sass nicht mehr vor dem Haus und spielte Mundharmonika, vielmehr sah man ihn nun beschäftigt mit Gartenarbeiten, er zupfte Unkraut, schleppte schwere Giesskannen, band Pfingstrosen auf und später im Jahr Stangenbohnen, mit der Zeit verlor er seinen stattlichen Bauch und irgendwann trug er werktags nicht mehr die abgetragene Sonntagshose, sondern eine Bluejeans, im Dorf Halbstarkenhose genannt. Das alles wegen dieser Silvia, deren Leben allerdings ein himmeltrauriges Ende nahm. Sie erkrankte an Krebs, litt unsägliche Schmerzen, daheim, die Ärzte im Krankenhaus konnten nichts mehr für sie tun, man habe sie manchmal schreien gehört, bis der Hergott nach elf Wochen und fünf Tagen, erzählte Jakob, ein Einsehen gehabt und sie endlich zu sich geholt habe. Nach ihrem Tod trug Jakob keine extravaganten Kleider mehr, spielte aber auch nicht mehr Mundharmonka vor dem Haus. Irgendwann zog er ins Altersheim. Das Leibundgut-Haus aber gibt es noch immer, obwohl jetzt die Fälle darin wohnen. Asylsuchende, lauter Sozialfälle, dunkle Gestalten bewohnten nun also, sagen die Dorfbewohner, das Leibundgut-Haus. Das ich als Kind Seelundbös-Haus genannt hatte.   
Gehen wir ein Stück, lieber Onkel? Entlang dem Schwarzbach, der in den Eschbach mündet? Gehen wir dem Schwarzbach entlang bis zur Stelle, wo er eingedolt worden ist? Oder bis zum Brückengeländer des Eschbachs, wo einst einer hing, der nicht mehr ein und aus gewusst hatte? Karl, Bruder eines Hofbesitzers, der in dem Moment zu Überschuss wurde, als der älteste Sohn des Besitzers fertig aus- und eingebildeter Landwirt geworden war, den Vater ablöste und seinem Onkel zu spüren gab, dass seine Zeit auf dem Hof abgelaufen war. Der Müller hat den Karl gefunden, hat ihn losgeknüpft und konnte nicht verhindern, dass der tote Karl kopfvoran in den Eschbach stürzte. Er hatte sich selbst gerichtet, nachdem er den Hof angezündet hatte, der niedergebrannt war bis auf die Grundmauern. Vieh- und Fahrhabe konnten gerettet werden, nur ein paar Hühner und der Schafbock verbrannten. 
Gehen wir ein paar Schritte. Werfen wir einen Blick in die Dorfchronik des Müllers, der nun auch gestorben ist. Karl figuriert in der Rubrik Selbstmörder. Der Müller würde in der harmlosen Rubrik der Herztoten auftauchen, machte sich jemand noch die Mühe, sein Werk weiterzuführen. Die Dorfchronik gibt es nicht mehr. Die Müllertöchter haben sie entsorgt bei der Hausräumung. So schreibe ich sie neu. Zähle alle Selbstmörder auf, die es gab im Dorf. Auch der Müller hatte einen Sohn, der nicht mehr leben wollte. Das war viele Jahre später, nachdem er den Karl losgeknöpft hatte vom Geländer. Im Eschbach haben meine Schwester und ich schwimmen gelernt. Mit einem Schwimmgurt als Kork. Einmal haben wir zum Spass um Hilfe gerufen. Wir wollten schauen, ob jemand reagierte. Es bereitete uns tiefe Befriedigung, als wir den Alois sahen, wie er zur tiefsten Stelle des Eschbach rannte, wo wir vergnügt planschten, in Gummistiefeln, Stallbekleidung und dem Melkkäppi auf dem Kopf rannte der Alois zum Bach. Tut das nie wieder, Kinder, hat er gesagt, jemanden so zum Narren zu halten, er war ganz bleich, und wir haben bloss noch genickt und sind dann hinter dem Alois her von dannen getrottet, tropfnass und mit gesenkten Köpfen, unsere Kleiderbündel unter dem Arm. Nicht einmal mehr umgezogen haben wir uns, weg, nur weg wollten wir von der Stelle unserer Schande, wo wir den herzensguten Alois verarscht hatten. Der unsere Missetat nicht mal dem Vater verraten hat, mit dem er jeden Dienstagabend gemeinsam zur Probe ging. Männerchor. 
Du verweigerst dich, lieber Onkel. Du willst nicht mit mir gesehen werden im Dorf. Du habest es schon schwierig genug, auch ohne alle die alten Geschichten, die ich ans Licht zerren würde. Komm mit mir wenigstens ins Oberdorf, schauen wir uns nochmals die Käserei an, wir Unterdörfler. Wo genau verlief eigentlich die Grenze zwischen Unter- und Oberdorf? Weisst du das noch? Gehörte die Schmiede schon zum Oberdorf oder war die alte Post das erste Oberdorfgebäude? Die Schmiede gehörte eindeutig zum Unterdorf, das Malergeschäft der Gebrüder Paul und Eugen Huber hingegen, das lag im Oberdorf. Der Paul war auch der Sigrist, in der Kapelle wird noch heute fleissig geheiratet, da braucht es Blumenschmuck, da braucht es den roten Teppich, und mindestens ein wenig überschlagen muss es sein in der Kapelle für die Hochzeitsgesellschaft, denn warm wird es dort nie, dazu ist die Leistung der beiden Elektroöfen viel zu schwach, die Bräute frieren immer, das liegt in der Natur der Sache, überdies tragen sie viel zu optimistische Kleider, kühl weht der Abendwind, sage ich da nur, auch wenn die Hochzeiten stets mitten am Nachmittag stattfinden und nur von Ostern bis Ende September.
Gehen wir ins Zentrum des Oberdorfs, des Dorfes überhaupt, zur Käserei. Auf dem Vorplatz bellen die Hunde, eingespannt an die kleinen Handwagen für die Milchkannen. Die Kleinbauern haben ihre Kettenhunde als Zugtiere eingesetzt, während die drei vier Grossbauern im Dorf mit einem Pferdefuhrwerk ihre Milch zur Käserei bringen. Schnell laden die Käserburschen die Milchtansen ab, wiegen die angelieferte Milch jedes Bauern, morgens und abends, der Käsermeister überprüft und schreibt die Menge in eine der beiden Kolonnen auf die grosse Schiefertafel, die direkt über der Milchwaage hängt. Alle Bauern sind dort mittels Nummern aufgeführt. Dazwischen schenkt der Käsermeister Milch aus an jene Dorfbewohner, die keine Kühe besitzen. Meist stehen Kinder in der Schlange, jedes mit einem kleinen, metallenen Milchkessel in der Hand. Die Kleinsten haben Zettel dabei, die sie dem Käsermeister reichen. Zwei Liter, 250 gr Tilsiter und drei Joghurt Erdbeer, steht da zum Beispiel drauf. Bei solchen Wünschen geht die Käserstochter ihrem Vater zur Hand, holt die Joghurts und die Butter aus dem riesigen Kühlschrank, wiegt den Käse ab , während der Käsermeister im Kopf zusammenzählt, was das Bestellte kostet. Ein Schwarzentruberkind fragt leise, ob es möglich sei, anschreiben zu lassen. Blankgeputzt nun der Vorplatz der Käserei. Abmontiert der grosse Hahn, aus der die Molke floss, mit dem man die geleerten Milchkannen wieder auffüllte. Die grünliche Molke, ein Abfallprodukt bei der Käseherstellung, leerten die Bauern den Schweinen in die Futtertröge, vermischt mit Küchenabfällen und Kraftfutter.
Wer nun in der alten Post wohnt, weisst du wohl auch nicht. Die Frau des Posthalters ging irgendwann ins Wasser, als die Poststelle aufgehoben wurde, nicht in den Eschbach natürlich, dort kann man sich nicht ertränken. Alles gehe hier bachab, sagst du. Und dennoch bleibst du im Dorf. Obwohl es der unpraktischste Ort ist für einen alten Menschen ohne Führerschein. Hier gibt es keinen Supermarkt, es gibt keine Post, kein Restaurant, es gibt nichts als die immer kühle Kapelle und es gibt die Leute. Die meisten kennst du nicht mehr. Neben den Fällen wohnen viele Zugezogene im Dorf. Leute, die aufs Land wollen. In deren Gärten sich stinkende Komposthaufen türmen. Du sagst, du könnest nicht sein ohne das Panorama. Du könnest dir nicht vorstellen, ohne das Panorama zu leben. Du stündest über Stunden in deinem Garten und schautest dir die Berge an. Du könntest ihre Umrisse zeichnen. Aber du tust es nicht. Wozu denn, wenn ich sie ja in echt vor mir habe, die Berge, sagst du. 
Gehen wir noch ein paar Schritte? Hoch zur Kapelle und dann noch weiter? Zum Steinmoos, dem letzten Hof des Dorfes? Ist dir zu weit. Verstehe. Ist ja auch traurig dort. Jetzt lebe die alte Frau dort unter der Woche ganz allein im Haus, sagst du. An den Wochenenden aber kriege sie noch immer Besuch. Ein einziges Trauerspiel, sagst du. Und es treffe einem Einzelnen bisweilen schlicht zu viel, sagst du und bleibst stehen. Ich stimme dir zu. Deine Mutter, erinnerst du dich, habe jeweils gesagt: Legte man alle Schicksale auf einen langen Tisch zum Tauschen aus, jeder würde am Schluss doch wieder sein eigenes Häufchen mit nach Hause nehmen.  Ob es für die Steinmööslerin auch so wäre? Da bin ich mir nicht sicher. Um ihren Hof, der ihr längst nicht mehr gehört, machst du wie die meisten Leute im Dorf einen Bogen. So gehe ich allein weiter und nähere mich dem Haus mit den verwaschenen Schindeln, die Fensterläden verblichen und schief in den Angeln hängend, alle ausser jene im Erdgeschoss sind zugezogen. Rund um die grosse Scheune, genutzt vom Dorfkönig, der sich auch diesen Hof unter den Nagel gerissen hat, lagern Heuballen, eingeschweisst in grellgrüne und rosarote Plastikfolie. An den Wochenenden werden der Steinmööslerin ihre drei Buben gebracht. Es sind Männer. Schwere Männer, die nur mühsam gehen können. Einer kriecht lieber. Sie sind im Rentenalter, nur, eine Rente kriegten sie wohl vom ersten Lebenstag weg. Du, lieber Onkel, sagst, diese himmeltraurige Geschichte darf man nicht erzählen. Darf man nicht. In diesem gesunden Dorf. Wo noch alles seine Richtigkeit hat. Und das Panorama an klaren Tagen unglaublich ist. Alles zum Greifen nahe. Also greife ich.

2 Kommentare

  • xy sagt:

    Dein neuer Text – grossartig geschrieben!
    Nur eben der Inhalt wurde (sogar) mir dann etwas zu „traumatisch“ in seiner Anhäufung von so viel Elend im „gesunden“ Dorf. Das Greifen nach all dem Kranken und Schauerlichen, sehr eindrücklich formuliert und gestaltet, aber eben, (sogar) mir dann etwas viel. Wie bei der Besteigung einer Pyramide des sich steigernden Schreckens kam ich mir vor, oder durch den Text geführt werden in immer noch düstere Regionen eines unterirdischen Labyrinths, von einem fast kafkaesken Schreck zum nächsten, „in diesem gesunden Dorf.“
    Mutig und sehr gekonnt wird hier erzählt von Dingen, die man laut Onkel nicht erzählen dürfe und ich weiss gar nicht, ob ich „onkelmässig“ darüber hier denken soll oder nicht –

  • Theres sagt:

    Liebe U., du hast völlig recht und reagierst nicht onkelhaft! Der Text ist rabenschwarz und es fehlt ein Gegengewicht. Manchmal gehen die Pferde mit mir durch und ich greife zur schwärzesten Tinte – obwohl ich weiss, es ist nicht alles schwarz oder weiss. Es gibt zum Glück auch die Zwischentöne, es gibt die leuchtenden Farben. Und wie ich sie mag!

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