18. Juli 2021

Ade und alles Gute

Drüben ist eben die Putzequipe eingezogen. Vorher hat eine Entsorgungsfirma das Hochbeet abgeholt. Und jetzt beobachte ich einen Mann, der im strömenden Regen den grossen Balkon mit einem Hochdruckgerät reinigt. Bis vor drei Tagen habe ich immer mal wieder dem kleinen Jungen zugewinkt, dem jüngsten Kind unserer Nachbarn. Der Junge hat drei um einiges ältere Schwestern, also vier Mütter insgesamt, alle blond wie er. Ein Glück, ein Nachteil, wer weiss das schon? Bis vor drei Tagen habe ich gelegentlich mit Anja, der Mutter all dieser Kinder, gesprochen, meist draussen, seltener mit Bernd, dem Vater, den ich meist nur sah, wenn er mit dem Fahrrad durch die Gegend kurvte, der blonde Junge sass hinten in einem Kindersitz, er trug einen Fahrradhelm in leuchtgrün, meist rief er mir unter heftigem Winken etwas zu, das ich nicht verstand. 
Vor zwei Tagen sind unsere Nachbarn weggezogen. Zwei riesige Umzugs-LKWs haben ihre Habe geschluckt: Möbel, Kartons, Pflanzen, Blumentöpfe, Krimskrams. Am Abend vor dem Umzugstag eine Stehparty im schon fast leeren Haus, auf den nackten Zimmerböden lagen bloss noch die Matratzen für die letzte Nacht. Unser Kontakt war nicht besonders eng gewesen. Wir haben weder Kochrezepte noch Sorgen ausgetauscht. Die Familie hat nur zwei Jahre drüben gewohnt. Aber immer wieder habe ich die blonden Kinder gesehen, wenn ich zufällig aus dem Fenster geschaut habe. Sie hatten offenbar schnell Freundschaften geschlossen, denn oft waren andere Kinder bei ihnen zu Besuch. Und wenn ich nachts aufstand, weil ich nicht schlafen konnte, gab es im Haus drüben stets irgendwo ein Licht. Manchmal war auch eine ganze Etage beleuchtet, über dem Herd in der Küche machten die Nachbarn das Licht nie aus. Ihr Haus ein kleiner, freundlicher Planet, der zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wenig Helligkeit verbreitete. Manchmal auch gedämpfte Musik. Ab und zu ein wenig Lärm, wenn sich die heranwachsenden Töchter zofften. Das Leben halt. 
Ich habe nicht gesehen, wie vorgestern alle sechs in ihren weissen Van gestiegen und weggefahren sind, ich bin schon früh weggegangen und erst abends wieder zurückgekehrt. Aber den ganzen Tag über hatte ich dieses Bild vor mir: Wie sie alle in den Van einsteigen, wie der kleine Junge festgeschnallt wird in seinem Kindersitz, wie Bernd auf dem Beifahrersitz Platz nimmt, die Girls sich auf den zwei hinteren Sitzbänken einrichten, die Älteste neben dem Jungen, sie wird ihn während der Fahrt bespassen, wie Anja den Wagen startet, wie sie alle nochmals auf das Haus schauen und dann den Blick über die Baumschule gleiten lassen, über die wolkenverhangenen Berge am Horizont, nur Anja konzentriert sich auf die Strasse, deshalb sitzt sie ja am Steuer, um beschäftigt zu sein und nicht zu den Bergen schauen zu müssen, zu den Bäumen, zum Haus. 
Nun sind sie weg. Das Haus leer, die Putzequipe hat alle Fenster geöffnet, der Geruch der Familie soll möglichst rasch verschwinden. Keine Kinder mehr auf dem Vorplatz, nicht die Zweiälteste, die ihren kleinen Bruder hochhebt, ihn tröstet und ihm dann zum hundertsten Mal zeigt, wie man Roller fährt. Nichts. Sie sind gegangen. Ich stelle mir vor, wie sie gerade jetzt siebenhundert Kilometer entfernt ihr Leben wieder aus den Kisten auspacken. Sie sind gegangen um sich anderswo einzurichten. Wir haben uns gemocht ohne je darüber zu sprechen. Jetzt sind sie weg. Wir werden uns gegenseitig besuchen, haben wir uns zugesichert. Wer weiss, denke ich schulterzuckend. Ich hasse Abschiede. Als Kind schloss ich mich ein in der Toilette, um mich von mir lieben Besuchern nicht verabschieden zu müssen. Wurde ich dazu gezwungen, flossen die Tränen. Wir wollen doch die Form wahren, sagte meine gelehrte Tante, wenn sie mich so sah, als ein Häufchen Elend.  
Sie sind nicht mehr da, diese sechs Menschen, die zufällig und ganz unauffällig zu meinem Alltag gehörten. Diese blonden Kinder. Dieses viele Leben. Die Kinder haben mich stets an die Zeit erinnert, als ich noch selbst täglich Kinder um mich hatte. Wie anstrengend das war. Und wie gut. Mit dem Wegzug der blonden Familie ist auch die Präsenz dieses früheren Lebens weg. Dafür wächst die Ahnung um bevorstehende Abschiede. Die sich häufen werden. Bis zum Schluss. Ob man auch dann die Form wahren will? 

3 Kommentare

  • ursula jakob sagt:

    liebe Theres, was für ein wunderbarer kleiner Text! Er hat mich sehr berührt, so dass ich am Schluss die Form nicht mehr ganz wahren konnte…… danke dir. Herzlich, Ursula

  • Urs Faes sagt:

    Bewegend festgehaltener Abschied. Geht nahe. Die Lücke scheint auf.
    Auch ich fürchte Abschiede.

  • Katharina sagt:

    „Ihr Haus, ein kleiner freundlicher Planet“… soviel in wenig Worten, wunderbar Theres!
    Ich habe mit Dir zusammen auch rausgeschaut und den kleinen blonden Buben gesehen, auch wie er am Gartenhag stand und mit deinem Enkel Flinn sprach. Wir hätten gerne zugehört…
    Und immer wieder“ un peu mourir “ …..
    Und auch ich habe mich versteckt und erinnere mich genau an den Tag, als der Krankenwagen mit meinem Vater wegfuhr und ich ihn nie mehr sah.
    Mich dünkt ich hätte den Geruch vom Polstermöbel noch in der Nase.
    Bald ziehen wieder andere Menschen ein und die blonde Familie fasst irgendwo wieder neuen Boden..und zurück bleibt ein wenig Wehmut…

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