12. August 2021

„Reise nach Maine“ – und anderswohin

Es gibt Bücher, die liest man und während des Lesens spürt man, dass man parallel noch in einem anderen, gar nicht geschriebenen Buch liest, ausgelöst durch den Text, den man vor Augen hat. ‘Reise nach Maine’, der fünfte Roman des deutschen Autors Matthias Nawrat, eben erschienen bei Rowohlt, ist für mich ein solches Buch. Der Autor erzählt von einer Reise eines 39-jährigen Sohnes mit seiner Mutter, die eben Rentnerin geworden ist. Der Sohn, Schriftsteller von Beruf, will ihr sein New York zeigen, nachher allein weiter reisen durch Neuengland, während sie alte Freunde besuchen würde. Doch kaum haben die zwei ihre Reise angetreten, eröffnet die Mutter, eine resolute Physiotherapeutin, im Erstberuf Lehrerin, ihrem Sohn, dass sie beabsichtige, auch die zweite Woche mit ihm zu verbringen. Bevor er sich richtig darüber ärgern kann, passiert kurz nach der Ankunft in New York City ein Unfall: Die Mutter stürzt aus Unachtsamkeit voll aufs Gesicht, die Spuren des Unfalls halten lange an und sind im Laufe der Reise immer wieder Anlass, dass Menschen sich bei ihr erkundigen, was denn passiert sei. 
Man muss dieses Buch selber lesen, denn blosses Nacherzählen der Story wird ihm – wie allen guten Büchern – nicht gerecht. Erst beim eigenen Lesen erfährt man, wie kunstvoll und vermeintlich beiläufig der Autor ein ganzes Mosaik von – auch amerikanischen – Lebensgeschichten einstreut, wie er seinen Protagonisten über das Bücherschreiben nachdenken lässt, dessen familiären Verstrickungen nachgeht und ganz vorsichtig das ganze Geflecht unausgesprochener Erwartungen, Vermutungen und Verletzungen offenlegt. Die Mutter nervt, der Sohn sagt nichts. Sie ist übergriffig, er schweigt. Sie durchschaut, dass er ihr zuliebe diese Reise macht, nur, was soll daran falsch sein? 
Ich bin mit den Beiden sehr gerne mitgereist, musste oft lachen auf dieser Reise, bietet das Buch für mich doch hohes Identifikationspotential, reise ich ja auch ab und zu und gerne mit meinen erwachsenen Kindern. Und nerve auch ab und zu. Aber was mich noch viel mehr frappierte, war eben dieses andere, dieses geheime, gar nicht geschriebene Buch, das sich mir lesenderweise erschloss. Es führte mich nicht nach Maine, sondern auf direktem Weg zurück nach Hause, in mein Elternhaus. Denn ich bin im Gegensatz zum Protagonisten kein einziges Mal mit meinen Eltern gereist. Nie im Leben. Und bislang war mir das gar nicht bewusst gewesen. Denn es schien mir normal. Dass wir nirgendwo zusammen waren, nirgendwo anders als stets zuhause. Daheim, immer nur daheim. Aber allein zuhause war ich nie. Immer waren mindestens die Eltern da, meist auch Geschwister. Wir besassen kein Auto. Und Bahnfahrten zum Vergnügen machte niemand. Wir fuhren nie gemeinsam in den Ferien. Wir machten keine einzige Reise zusammen. Wir unternahmen nichts. Ausser Sonntagspaziergänge. Wir erlebten uns in der ganzen Zeit, in der ich bei meinen Eltern lebte, nur daheim. Immer im Alltag. In Werktagskleidern. Spät im Leben, als die Eltern den Hof nicht mehr hatten, machte die Mutter ein paar Ausflüge mit dem Frauenverein. Ausflüge, keine Ferien. Mit einem Reisecar. Vater blieb daheim und ging in den Wald. Ich wäre auch zu dieser Zeit nie auf die Idee gekommen, mit der Mutter oder dem Vater eine Reise zu machen. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Ich versuche, mir jetzt vorzustellen, wie meine Eltern in einem Flugzeug gesessen hätten. Oder zumindest in einem Speisewagen. Unmöglich. Es gelingt mir nicht.  Ob sie andere Menschen gewesen wären fern von zuhause? Ob ich einen winzigen Blick auf eine andere Facette ihrer Persönlichkeiten erhascht hätte? Oder ob sie mich anders gesehen hätten? Ihr Kind als eine erwachsene Person? Sie hätten erst mal einen Koffer kaufen müssen. War aber nicht nötig, sie blieben zuhause.  
Matthias Nawrat, ‘Reise nach Maine’, Rowohlt, August 2021

2 Kommentare

  • Katharina sagt:

    Liebe Theres
    obwohl ich das Buch „Reise nach Maine“(noch) nicht gelesen habe, würde mich Dein (noch) geheimes Buch viel mehr interessieren!
    „Vater blieb daheim und ging in den Wald“. Dort hätte ich ihn gerne getroffen! Viel lieber als an einem Touristenort.
    Ob Du uns vielleicht doch einmal in den Urswilerwald mitnimmst?

  • Linda sagt:

    Es ist ausgesprochen eindrücklich, liebe Theres, welche Facetten des Lebens Du aufzuspüren in der Lage bist. In Deinen Büchern und auch hier. Und schon beginne auch ich wieder im eigenen Buch zu lesen, in dem auch ich nie mit den Eltern gereist bin, erst mit dem grad verwitweten Vater gegen Ende seines Lebens. Zusammen allerdings waren die Eltern unterwegs, sie hatten mehrere Koffer…

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