25. Mai 2021

Liebe Edith

Du schreibst: Manchmal frage ich mich beim Lesen, ob es ein Vor- oder Nachteil ist, Menschen, die in einem Roman vorkommen,  zu kennen. Die Frage kann ich dir nicht beantworten, aber ich denke, in Romanen kommen keine real existierende Menschen vor, sondern Figuren. Und auch, wenn du glaubst, sie zu kennen, so kennst du sie nicht. Die Figuren sind Papiermenschen, sie bestehen aus Buchstaben, aus Sätzen, es sind bestenfalls hybride Wesen, gefüttert mit realen Versatzstücken, aber vor allem mit Sprache. Und die Sprache nimmt ihren eigenen Verlauf während des Schreibens eines Romans. Sie ist wie ein Bach, der fliesst und fliesst, zögerlich erst, wenn er entspringt und stellenweise gar im Untergrund versickert. Dann bilden sich Dolinen. Ein Stück später zeigt sich der Fluss wieder, er legt an Kraft zu in seinem Mittellauf, er führt Geschiebe mit, Äste, ganze Baumstämme, die sich verkeilen. Dieses Geschiebe braucht Platz, der Fluss wird breiter, manchmal genügt ihm sein Bett nicht mehr und er tritt über die Ufer und überschwemmt schönes Wiesland und nimmt sich, was ihm in die Quere kommt. 
Ich nehme beim Scheiben. Nicht ohne Zögern und Zaudern. Aber ich greife zu. Ich bediene mich in den Regalen der Realität und koche mit diesen Zutaten mein eigenes Süppchen. Es schmeckt nicht allen und Suppe mögen eh nicht alle, egal, aber was gibt es Besseres im Winter und selbst jetzt, in diesem bockbeinigen Mai, als eine schöne heisse Suppe nach eigenem Rezept, das im Kopf entsteht und das man also nicht wiedergeben kann, auch nicht die Mengenangaben, sie erst recht nicht, du schnippelst, du hackst, du rührst, du gibst bei und lässt auf kleinem Feuer köcheln und schmeckst ab – nur, wem sage ich das, dir natürlich, du beste Köchin aller Zeiten, die du weisst, dass sich im Topf etwas wie eine Verwandlung vollzieht, wenn Zutaten zu einem Ganzen werden, mittels Wärme und vor allem mittels Geduld. 
Ich denke, viele Autor*innen sind im Grunde ungeduldige Menschen. Einzig für das Schreiben haben sie im Laufe der Zeit eine eigene Geduld entwickelt, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Schritt für Schritt, Satz für Satz, Wort für Wort. Die wenigen Punkte. Die raren Fragezeichen. Keine Ausrufe. Binde- und Gedankenstriche hingegen als verlässliche Werkzeuge. Man kann nichts überspringen, die Lücke klafft hässlich und du fällst hinein, jedes Mal, und du beginnst in Gottes Namen – würde meine Mutter sagen – nochmals von vorn. Vielleicht gelingt der Sprung dieses Mal. Stabhochspringer müssen ja auch üben. Wir alle müssen üben. Stern übt die Schwalbe. Jeden Tag. Und du übst sie nun auch täglich, hast du gesagt, auf Vorrat, für das Alter. Das war eine der schönsten Reaktionen auf diesen Stern, sie sternt ihn, sozusagen. Danke.

Einen Kommentar

  • Ursula sagt:

    Bin ich denn
    eine Figur? Aus Sprache und Erfindung? Ich „erfinde“ mich immer wieder neu. Kein Ausrufzeichen mehr , oder doch? Ich bin ja keine Schriftstellerin. 😀
    Die Schwalbe üben, so schön , sich als TänzerIn fühlen, die Balance finden im halt immer wieder wilden Innen- und Aussenleben. In Gottes Namen üben…….

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