24. März 2023

Lesen und Hören – zusammen oder allein

Immer wieder mache ich die Erfahrung, wie spannend es ist, wenn eine Gruppe von Menschen dasselbe Buch liest. Und in den Diskussionen über eben dieses Buch macht es oft den Anschein, als hätten die Einzelnen je ein anderes Buch gelesen. Denn wir lesen mit unseren eigenen Augen. Mit unserem eigenen Blick auf die Welt und den Bildern, die wir uns davon machen, und während der Lektüre läuft das alles im Untergrund mit. Die meisten Lesenden haben sich schon beim Gefühl ertappt, das Buch in ihren Händen sei genau für sie geschrieben worden. Oder, extremer noch, es handle von ihnen. Warum das so ist, darüber habe ich in vielen Lesegruppen schon diskutiert. Und warum auch das Gegenteil der Fall sein kann. Warum man in ein Buch nicht hineinfindet. Manchmal lohnt es sich, ein wenig durchzuhalten, aber nicht um jeden Preis. Ich jedenfalls habe längst den Ehrgeiz aufgegeben, jedes Buch zu Ende zu lesen. 
Die schönste Erfahrung, die ich in solchen Gruppen mache: Ich treffe mich mit Menschen, von denen ich zu Beginn nichts weiss, ausser, dass sie vermutlich gern lesen und sich über Lektüre austauschen möchten. Ich weiss nichts von ihrem Leben, keine Ahnung, woher sie kommen, ob sie Partner, Partnerinnen, Kinder, Enkelkinder und einen Freundeskreis haben, ob sie ein Haus besitzen oder in einer Einraumwohnung zur Miete leben, ob sie Kummer, Krankheiten und Krebs überlebt haben oder gerade neu verliebt sind. Das alles spielt auch keine Rolle. Denn darüber sprechen wir nicht. Wir sprechen über Bücher. Über Figuren und ihre Welten, über Inhalte und die erzählte Zeit, über Sprache, Dialoge, Stil. Wir lernen uns über Bücher und über Gespräche über Bücher kennen. Und mit der Zeit schimmert in den Gesprächen etwas von uns selbst auf. Etwas davon, wie wir leben. An der Art, wie wir über das Gelesene sprechen, wie jemand Fragen stellt, wie ein Mann einem andern ins Wort fällt, wie eine bei gewissen Themen schweigt und eine andere sich aufregt über eine Figur. In meinem Leben sind in Lesegruppen enge Freundschaften entstanden, die ihren Anfang in gemeinsamer Lektüre genommen haben. Und ich habe über das Lesen früh schon gemerkt, dass die Welt nicht beim Kuhzaun aufhört. Dass es Meere gibt, grosse Ströme und Landschaften, die anders sind als unsere bebauten Äcker damals. Und dass es Menschen gibt, die sich nicht passgenau in ein Gefüge einordnen.
Jetzt aber zu meiner neuesten Entdeckung: Hörbücher! Bislang hielt ich Menschen, die Hörbücher hören, für faul. Zu faul, selbst zu lesen, richtig zu lesen. Denn Lesen ist anstrengend, ja, auch für die Augen, noch mehr für Gedächtnis und Psyche. Die ständige Produktion von Bildern, der ständige Bezug auf ein inneres Referenzsystem. Nur, das alles spielt sich auch ab, wenn ich ein Hörbuch hören. Vielleicht sogar noch stärker. Wie ich auf Hörbücher gekommen bin? Ich war im Kino und sah den Film ‘Mittagsstunde’, eine grandios eigenständige filmische Übersetzung des ebenso grandiosen gleichnamigen Romans von Dörte Hansen. (Dringliche Empfehlung aller ihrer Romane, auch für den neuesten ‘Zur See’). Zuhause wollte ich ‘Mittagsstunde’ gleich nochmals lesen, aber ich fand das Buch nicht mehr. Wohl eines jener Werke, die ich ausgeliehen und nie mehr zurückbekommen habe. Nicht schlimm, gute Bücher sollen zirkulieren! Weil ich aber sofort wissen wollte, wie denn der Roman beginnt, klickte ich mich auf Rat meiner schon längst hörbuchbegeisterten Tochter auf dem Handy in eine Hörprobe des gleichnamigen Hörbuches – und es war um mich geschehen! Jemand erzählt nur mir ganz allein und direkt in meinen Kopf hinein eine Geschichte. Unfassbar. Unfassbar intim. Jemand liest mir vor. Und das mit einer äusserst angenehmen Stimme und perfekt intoniert. Und das Beste: Ich kann dieser Stimme tatenlos lauschen oder aber mich mit ihr im Ohr auf meine täglichen Märsche begeben. Aber, bei allem Entzücken, es gibt dabei leider auch einen richtig traurigen Moment. Wenn die Geschichte zu Ende ist. Auserzählt. Fertig. Wenn die Stimme schweigt. Plötzlich diese Stille. In der du dann ganz allein schwimmst. 

10 Kommentare

  • Valeria sagt:

    Liebe Theres, ich muss Dich schelten: Du hast in Deinem Beitrag etwas Wichtiges vergessen. Und das ist ein Name, nämlich der von Hannelore Hoger. Sie liest die Werke von Dörte Hansen, und sie macht das grossartig. Hörbücher wären nichts ohne die Leute, die sie vorlesen, sie sprechen. Und das sind oft tolle Schauspieler:innen. Wie oft schon wusste ich nicht, was ich als nächstes hören sollte – und dann suchte ich nicht nach Autor:innen, sondern nach Sprecher:innen. Menschen eben wie Hannelore Hoger. Meistens gilt nämlich auch: Gute Bücher werden von guten Sprecher:innen gesprochen.

    • Theres sagt:

      Liebe Valeria, du hast Recht, die Schelte ist angekommen. Es ist wie bei gut übersetzten Büchern. Da ist es auch unabdingbar, den Namen der Übersetzer:innen zu nennen. Meine Unterlassung lässt sich nur so entschuldigen, dass ich ein Neuling bin auf dem Gebiet der Hörbücher. Aber ich werde mich schnell tiefer einarbeiten und der Fehler wird mir nicht mehr passieren. Zur Zeit höre ich „Was man von hier aus sehen kann“ (Roman von Mariana Leky), gesprochen von SANDRA HÜLLER.

  • Valeria sagt:

    ☺️ Auch Sandra Hüller bürgt für höchste Qualität – in Filmen, auf Bühnen, für Hörbücher.

  • d sagt:

    Und was tut ihr mit den Händen beim Zuhören…, zumindest wenn Ihr nicht grad am Laufen seid, wo ich das ja nicht gut kann;

    im Wald und auf den Wiesen mich nicht gut auf gehörte Texte konzentrieren kann, to be honest lieber eigentlich auf die Amseln und die Stillen

    • Theres sagt:

      Auch ich bin noch lange nicht immer verstöpselt, wenn ich durch Felder und Wälder streife. Im Frühjahr schon grad gar nicht. Aber knete mal einen Teig, schäle, schneide, schnipsle und schnetzle Gemüse und Kräuter für eine Suppe oder einen Sugo, dann sind die Hände beschäftigt, wenn du Hörbücher hörst. Stricken geht auch wunderbar. Flicken oder nähen passten wohl auch, nur kann ich das nicht.

  • Ilsebill Hobbeling sagt:

    Guten Tag Theres,

    ich habe gerade Deinen neuesten (wieder sehr schönen) Blog-Beitrag gelesen, und ich muss sagen, Du machst mir Mut!
    Hörbücher sind bis jetzt so gar nicht meins. Aber mit dem Älterwerden kommt öfters der Gedanke, dass ich vielleicht irgendwann nicht mehr lesen kann (lebenswichtig für mich), und da hat die Aussicht auf Hörbücher mich bisher nicht beruhigt. Aber es stimmt mich zuversichtlich, was Du schreibst. Vielleicht probiere ich es doch mal jetzt schon mit dem Hören, obwohl das Lesen noch gut funktioniert.

    Vielen Dank für Deine aufbauenden Worte – auch zum Thema Lesekreis – ich denke öfters darüber nach, wieder so etwas ins Leben zu rufen, denn mir hat das in früheren Zeiten auch immer gut gefallen.

    Liebe Grüße in die Schweiz,
    Ilsebill

    • Theres sagt:

      Liebe Ilsebill, danke für die schöne Reaktion. Ja, gründe unbedingt einen Lesezirkel, das macht Freude. Und probiere Hörbücher aus, es lohnt sich. Was ja nicht heisst, dass wir nicht munter weiter lesen. Zu hoffen ist, dass unsere Augen UND unsere Ohren ihren Dienst noch lange tun und dereinst nicht gleichzeitig ausfallen. Wie auch immer: Ich empfehle allen, mal auf Ilsebills Blog vorbeizuschauen. Ein Blog über Bücher und Filme, über Lesen und Schreiben. Toll. http://www.ilsebillslesezeichen.de

  • Margrit sagt:

    Liebe Theres
    Du sprichst meine Gedanken und Erfahrungen aus bezüglich Lesegruppen – nur viel besser als ich es könnte.
    Lesebücher schätze ich auf langen Zugstrecken. Oft verschmelzen in der Erinnerung dann Reise und vorgelesener Text – oder vielleicht sollte ich sagen, werden im Gedächtnis verknüpft.

  • Michael sagt:

    „Ich jedenfalls habe längst den Ehrgeiz aufgegeben, jedes Buch zu Ende zu lesen“, schreibst du. Ich habe einen Freund, der alle Bücher seiner Bibliothek gelesen hat. Ich habe ihn gestern nach der Lektüre deines Beitrags angerufen und gefragt, ob sein Satz immer noch stimme. Und ja: er bestätigte den Satz: Jedes Buch, das er kaufe, lese er auch zu Ende. Wie tröstlich, dass Peter Bichsel in einem seiner Texte verraten hat, dass er ein langweiliges Buch ohne schlechtes Gewissen nach 30 oder 40 Seiten weglegen könne! Dazu fällt mir jene wunderbare Aktion der beiden Künstlerinnen Françoise Caraco und Agatha Zobrist ein, die sich bewusst an Leserinnen und Leser richtet, die sich nicht verpflichtet fühlen, ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Hier findet sich ein Beitrag zu dieser Aktion: https://filmeinwurf.ch/2023/03/13/fotobuch-blind-gekauft/

  • Ursula sagt:

    Lesezirkel verhelfen dazu, ein Buch bewusster zu lesen. Auch ich lese nicht weiter, wenn mir das Buch nicht gefällt, das Leben ist zu kurz dafür.

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