7. Mai 2023

Ein wenig Zuversicht

Ich sah heute in Berlin einen jungen Mann, der, auf einer Parkbank sitzend, einem im Kinderwagen schlafenden Säugling die Fingernägel schnitt. Dass er eine winzige Nagelschere dabeihatte und die Gunst der Stunde nutzte, dafür bewunderte ich ihn. Für so viel Umsicht. Und für seine Vorsicht, mit der er sich über die Babyhand beugte, die winzigen Fingerchen mit zwei Fingern seiner linken Hand fasste und mit dem Scherchen in seiner rechten Hand Fingernagel um Fingernagel bearbeitete. Dazwischen hielt er inne und versicherte sich, dass das Baby noch immer schlief. Ich las wieder ein paar Zeilen in meinem Buch, das ich dabeihatte, und als ich wieder hochblickte, war der Mann um den Kinderwagen herumgegangen und bearbeitete knieend die Nägel der andern Babyhand. 
Ich sah gestern auf einem Spaziergang unter einem frühlingsgrünen Blätterdach einer Allee zwei Fahrradfahrer, ein Mann und ein Kind. Ihre Räder waren ihrer Körperlänge angepasst. Das Kind fuhr noch ein wenig unsicher, aber vor Begeisterung jauchzend durch riesige Regenpfützen, das Wasser spritzte seine Schuhe und seine Hose nass. Und der Vater auf seinem Rad tat es ihm gleich. Immer wieder fuhren die beiden in grossen Kreisen mitten durch die Pfütze, immer wieder spritze das Wasser hoch, immer wieder jubelten beide. Nach einer Weile stiegen sie von den Rädern und umarmten sich. 
Auf meinen Morgenspaziergängen durch das Quartier begegne ich unzähligen Eltern, oft etwas in Eile, die ihre Kinder in die Kita, in den Kindergarten, in die Grundschule bringen. Und sie nach sechzehn Uhr wieder abholen. Frauen und Männer. Mütter und Väter. Nachher begegne ich ihnen beim Einkaufen, viele haben ein Baby um den Bauch geschnallt, ein Vorschulkind an der Hand, mit dem sie besprechen, was abends auf den Tisch kommen soll. Ich begegne ihnen in den Parks, zu denen stets grosse Spielplätze gehören. Auf Bänken werden Kleinkinder gewickelt, gepflegt, gefüttert, getröstet. Von Müttern und von Vätern. Unter den Klettergerüsten stehen Väter und Mütter und sprechen ihren Kindern Mut zu oder mahnen zur Vorsicht. Auch am Rand der Sandkisten sitzen sie und zeigen sich Fotos auf ihren Handys.
Was ich in Berlin viel seltener als in der Schweiz sehe: Grossmütter, die tagsüber sehr gestylte Kinderwagen durch die Gegend schieben, auf ihren Gesichtern meist ein verzückter Ausdruck. Oder Grossväter in der Bahn, die ihren den Windeln entwachsenen Enkeln die Welt erklären. Spreche ich mit diesen Schweizer Grosseltern, erklären sie bereitwillig, dass Enkelinder hüten jung erhalte, Sinn vermittle und gleichzeitig das Budget ihrer Kinder entlaste. Ich nicke und schweige. Und gehe nach Hause und lese Bücher von jungen Autorinnen und von jungen Autoren, die über ihre Mutter- und Vater und Elternschaft schreiben und diese Themen nicht für belanglos halten. Sie erzählen darüber, wie sie es gut machen wollen. Wie sie alles gut machen wollen. Wie sie überall ihr Bestes geben und sich am Ende des Tages oft mit dem Zweit- oder Drittbesten zufriedengeben müssen, schnell noch die Küche in Ordnung bringen und die Wäsche falten, zu zweit, falls sie zu zweit sind, und dazu ein Glas Wein oder ein Bier trinken oder Kräutertee und über die Kinder sprechen und über sich selbst. Über ihre Bücher. Über ihre Pläne. Über ihre Leben. Über ihre Müdigkeit. Und dass es in Ordnung ist, wenn sie bisweilen Freundinnen und Freunde beneiden, die keine Kinder haben. Dass es ohnehin in Ordnung ist, keinen Kinderwunsch zu haben. In Ordnung für Frauen und für Männer. Und dass es in Ordnung ist, nicht zu heiraten und das mit und ohne Kinder. Und dass es die Ehe für alle gibt. 
Das alles stimmt mich ein wenig zuversichtlich. Dass Rollen aufweichen. Dass Väter ein Nagelscherchen mit in den Park nehmen. Jauchzend durch Pfützen fahren. Ihre Kinder pampern, während ihre Partner:innen noch bei der Arbeit sind oder endlich mal ein Stündchen allein oder auf einen Kaffee mit einer Freundin und nicht etwa zuhause Staub saugen oder Betten beziehen oder das Lieblingsessen des Gatten auf den Tisch zaubern, wenn dieser seinen sauer verdienten Feierabend opfert, ausnahmsweise, und sich um den Nachwuchs kümmert und dafür hohes Lob einheimst. Und manchmal vermute ich, ganz still und sehr heimlich, dass wir, ob nun passionierte oder bloss gelegentlich aktive Grossmütter (Grossväter können unter bestimmten Bedingungen mitgemeint sein), nicht alles falsch gemacht haben. Es sind ja unsere Kinder, die jetzt alles gut machen wollen. Die ihr Bestes geben. Kommt uns zwar irgendwie bekannt vor. Dennoch: Wir halten euch die Daumen.

6 Kommentare

  • Andrea sagt:

    wunderbarer Text

  • mariethé sagt:

    schliesse mich an, danke

  • Gisela sagt:

    Genau! Ein wenig hat unser Versuch einer feministischen Erziehung wohl Früchte getragen!

  • Ursula Schenkel sagt:

    Wow, das habe ich in einem Schnuz gelesen und gelächelt . So frisch und herzig , habs gleich auch gesehen wie die Fingernägelchen geschnitten werden und wie durch die Pfützen gefahren wird. Und dabei gejauchzt.
    Danke für den lüpfigen Text.
    Ursula

  • Bernadette Jud-Halter sagt:

    Dein Text lässt mich schmunzeln! Der Tag ist gerettet… wofür sonst sind die Pfützen denn da … einfach wunderbar. Danke

  • xy Altenzeichen , a.u. sagt:

    Unglaublich schön geschriebener Text, find ich, auch wenn es ja wirklich nicht „mein Thema“ ist, („Fremde sind wir auf der Erden alle“, fällt mir grad ein…).- . Fast schon wie im Märchen kam mir jener jauchzende velofahrende Vater vor bei den Pfützen in Berlin, das Nägelscherchen auch. Der gestylte Kinderwagen in der Schweiz, der verzückte Ausdruck in schweizerischen Grossmüttergesichtern, aber Pfützen gibts ja auch in der Schweiz, auch hier immer mehr Väter mit kleinen Kindern zu sehen, und irgendwie fänd ichs schön, wieder einen Roman von Dir mit Deiner wundersam schönen Schreibkunst lesen zu dürfen, muss mal wieder gesagt sein, uff, diesen Text dann besser deleten, gell, das Chaos im Kopf am Abend von „Auffahrt“, nichts für Oeffentlichkeit natürlich, und doch schreibt sie hier drauflos, als dürfe man das einfach so…

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