10. Februar 2020

Glücksstürme

Sabine hat ihren Höhepunkt heute Vormittag erreicht. Mit einem zweiten Höhepunkt sei in der Nacht auf morgen zu rechnen. Sagen die Meteorologen. Von mir aus darf Sabine auch dreimal kommen, denn ich liebe Stürme. Wie bitte? Ja, es ist so, ich liebe Stürme. Dennoch und wider besseren Wissens. Klar, sie sollen bitte niemanden verletzen. Kein umstürzender Baum auf einem Auto oder, noch schlimmer, auf einem Kopf. Keine Hausdächer, die durch die Luft fliegen, keine aufgepeitschten Wassermassen, die Böses anrichten. Aber ein wenig Katastrophenstimmung, vom TV verbreitet in Erwartung der Orkanböen, steigert meine Vorfreude. Es hebt meine Laune beträchtlich, wenn der Moderator flugs mit Wörtern wie Gefahrenstufe, Sturmphasen und Böenspitzen hantiert und uns mit ernster Mine und fast wie ein Arzt verordnet, Gartenmobiliar und alles, was uns lieb und teuer sei, doch bitte zu sichern. 
In der Nacht bin ich mehrfach aufgewacht in Erwartung Sabines. Aber da war nur der volle Mond, immer wieder von den Wolken verdeckt. Und alles enttäuschend still. Frühmorgens aber habe ich mich gefreut, dass sich Sabine in unseren Gefilden bloss etwas verspätet hatte und erst, als es langsam tagte, so richtig gezeigt hat, was sie drauf hat. Sie trieb riesige Wolkenpakte über den Himmel. Sie schüttelte die hohen hohen Birken in Nachbars Garten aufs Heftigste durch. Sie brachte die Rollläden zum Klappern. Sie riss und zog und zerrte und zauste so unsanft an den Sträuchern im Garten, dass sie mir fast schon leid taten. Die Winde fegten dürres Herbstlaub durch die Strassen und unsere ungesicherten Gartenstühle. Kniff ich die Augen zu, konnte ich sogar sehen, dass sich die Wipfel der Tannen weit oben an der Grenze zum Horizont bewegten. Und immer wieder peitschten heftige Regenschauer an mein Fenster.
Noch hält Sabine durch, eine neue Welle sei im Anzug und meine Hochstimmung hält an. Endlich ist draussen etwas los. Der Sturm zeigt sich überall, verschafft sich Gehör, geht man vor die Tür, fährt er einen in die Kleider und geht unter die Haut. Das reine Glück. Vielleicht mag ich Stürme deshalb so sehr, weil wir als Kinder bei Sturm nicht draussen arbeiten mussten. Wir durften im Haus bleiben, am Fenster stehen, zuschauen und den heulenden Winden lauschen. Vielleicht liebe ich Stürme deshalb so sehr, weil einer von ihnen irgendwann, wer weiss, den fliegenden Robert zurückbringen wird. „Wo der Wind ihn hingetragen, ja, das weiss kein Mensch zu sagen“. Erzähl, Robert, erzähl. Dann wüssten wir es endlich. Vielleicht auch liebe ich Stürme so sehr, weil das, was sich sonst bloss innen abspielt, tonlos, unsichtbar und unbegreiflich, plötzlich aussen aufgeführt wird. Von der Natur. Als heftiges Schauspiel. Und die Natur, sagt man, habe immer recht. 

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