27. Januar 2020

Schichtarbeit

Es ist spät. Die Nacht öffnet schon ihre Räume, als Lisa aufsteht und ans Fenster tritt. Der Fluss führt Hochwasser und rauscht und rauscht durch die Dunkelheit. Winde heulen und Wörter und Sätze brennen sich in die Nacht. Schwach schimmern Sterne. Anderntags ist es, als würde ein Frühlingstag beginnen. Klar und hellblau der Himmel. Die unbelaubten Winterbäume strecken ihre Äste dem Blau entgegen. Die baufälligen Nester der Zugvögel sind unbewohnt. Eine einzelne Krähe kreist krächzend im frühen Licht. Ein stiller Morgen, wie aus der Zeit gefallen. Noch vor dem Mittag kommt der Baumpfleger. Er arbeitet sich von Baum zu Baum, schneidet alte Äste ab, stutzt da und dort einen Zweig, bevor er wieder von der Leiter steigt. Unten betrachtet er den geschnittenen Baum von allen Seiten, bevor er seine Leiter zum nächsten trägt. Der alte Bauer ist auch auf der Wiese. Trotz seines krummen Rückens bückt er sich unablässig nach den Ästen und Ästchen am Boden, legt sie erst in einen Drahtkorb und schichtet sie dann sorgfältig auf. Vor dem Eindunkeln befindet sich unter jedem Baum ein kompakter Stapel aus alten Ästen. Wieder steht Lisa am Fenster und betrachtet lange das fremde Tagwerk. 

2 Kommentare

  • Barbara sagt:

    Lisa trat ans Fenster. Was hatte sie bewegt? Wohin hat das Rauschen des Flusses ihre Gedanken getragen? Haben die Wörter und Sätze ihre Träume geformt?
    „Es ist nicht immer einfach, zwischen Nachdenken und dem Blick aus dem Fenster zu unterscheiden“, schrieb Wallace Stevens. Die Welt vor sich liegen sehen, über sie hinweg schauen, durch sie hindurch, in eine Ferne, die vielleicht in mir liegt. Ist das die Sehnsucht, wenn wir ans Fenster treten und manchmal sogar die Stirn an die kühle Scheibe legen? Fühlen, wie sie uns hält, zwischen hier und dort. Wieder steht Lisa am Fenster und betrachtet die Ordnung. Die Sorgfalt. Sie haucht auf die Scheibe und geht weg, bevor sich der milchige Fleck auflöst.

  • mariethé sagt:

    Theres, dein Text passt wunderbar zum Bild, eine hommage an den sorgfältigen alten Bauern beim Schneiden der aussterbenden Hochstammbäume…… und super der Titel, der ganz anderes erwarten lässt und plötzlich so nahel i e g e n d ist.

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