22. April 2021
Wachablösung
Leise verwandelt sich der Wald in eine Verlockung aus Grün in allen Schattierungen. Ebenso leise wird er sich in einem halben Jahr zurückverwandeln in ein bräunlich-graues, langsamer atmendes Wesen. Die Stille im Wald hat stets Hochsaison. Oder verhält es sich andersherum? Macht der Wald uns stiller? Lässt er uns langsamer atmen? Denn ganz still ist es im Wald ja nicht. Da ist Leben. Da sind die Vögel, die Bäume, die Äste, da ist das Laub, Windstösse erzeugen Geräusche, auch Waldarbeiter mit ihren Motorsägen, dem schwerem Gerät und den fahrenden Ungetümen, deren Spuren sich in den Waldboden drücken, als müsste er für die Ewigkeit geprägt werden. Der Wald ist seit ewigen Zeiten mein Spielzimmer. Nun wird es offenbar möbliert, zu welchem Zweck, erschliesst sich mir nicht. Wenn ich aber vorbei gehe am roten Stuhl, sitzt da täglich ein anderes Männlein oder Weiblein im Walde, ganz still und stumm. Ich grüsse und gehe weiter, auf dem Weg zur Grossmutter, im Korb den Kuchen, den Wein, begegne dem Holzfäller, der seine beiden Kinder auf Befehl ihrer Stiefmutter immer tiefer in den Wald hineinführt und sie dann sich selbst überlässt, halte nach dem Wolf Ausschau, der sich nie zeigt, erreiche nie das Knusperhäuschen, sondern nur einen Geräteschuppen der Korporation, nie die Stelle, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, aber immer wieder den Platz, wo der Stuhl steht, offenbar drehe ich mich im Kreise, immer im Kreise. Heute früh sass eine Gestalt im Feenkleid dort, sie winkte mich herbei, ich zögerte, näherte mich ihr aber doch, ausser mir vor Angst, sie machte eine einladende Geste, schien mir freundlich gesinnt, aber als ich ihr ganz nahe war, löste sie sich auf. Nun sitze ich selbst auf dem Stuhl und warte, bis jemand vorbeikommt. Wer übernimmt?
Es übernimmt der Wind, der Wind, das himmlische Kind, das sich in der Bise durch die ausgedünnten Lärchenwipfel treiben und mich schaudern lässt, immer noch kalte Ohren und kalte Hände, während der Körper sich nach Wärme sehnt. Bald werden die Lärchen wieder schmatzen, im Winter habe ich es nie gehört, nur im Sommer, vielleicht wenn sie durstig sind, ich weiss es nicht, ich will es auch nicht wissen, manchmal ist es schöner, nicht zu wissen, sich auf den roten Stuhl zu setzen, sich ein bisschen zu fürchten und zu phantasieren.