9. April 2021

Hinter die Ohren schreiben

«S’ esch öberall öppis», sagte meine Mutter abschliessend, wenn ihr eine Nachbarin geheime Sorgen mit dem Ehemann, mit einem Kind oder mit sonstigen Verwandten anvertraute. Jemand tat nicht recht, schlug über die Stränge, frass unter dem Hag durch, soff, panschte Milch, hatte es mit dem Gemüt oder wurde gar vom Wachtmeister auf den Posten mitgenommen. Solche Gespräche interessierten mich brennend. So wurde ich zu einer Spezialistin darin, mich unsichtbar zu machen, denn ich setzte mich mit einem Buch in eine schlecht einsehbare Zimmerecke und verhielt mich so still, dass die Erwachsenen entweder meine Anwesenheit vergassen oder glaubten, ich wäre völlig ins Lesen versunken. Was ich oft auch war, dennoch belauschte ich stets Gespräche. Ab und zu fragte ich hinterher bei der Mutter nach, wenn ich etwas nicht kapiert hatte. Meist gab sie eine einsilbige Antwort, der sie aber sofort nachschickte: 
«Aber versprich, dass du «of’s Muul hocksch». 
«Wie macht man das denn, of’s Muul hocke?», wollte ich wissen. Die Mutter klopfte nur ein paarmal mit dem Zeigefinger auf ihre fest zusammengepressten Lippen und gab mir einen strengen Blick. Ich nickte.
«Schreib es dir hinter die Ohren», verstärkte sie den ersten Befehl. Ich nickte erneut. Der Platz hinter den Ohren war bei mir schnell gefüllt und ist längst mehrfach überschrieben. Unsichtbare Tattoos wurden dort angebracht, lange, bevor es in Mode kam, sich Zeichen in die Haut stechen zu lassen.  
In der Generation meiner Eltern sind alle «of’s Muul ghocket» und haben sich diese Devise auch noch hinter die Ohren geschrieben, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen ist. Was würden denn die Leute sagen, wenn sie wüssten, dass…. Obwohl sich alle einig waren, dass «öberall öppis esch»…
Kümmern uns heute die Leute weniger? Ich bin mir da nicht so sicher. Was zählt, ist der schöne Schein. Der perfekte Körper. Die intakte Familie. Das stylische Eigenheim. Die weissen Zähne. Bitte lächeln. Auch wenn dir nicht danach ist, bitte lächeln. Auch wenn dir himmelelend zu Mute ist und es dir Gottvergessen schlecht geht, bitte lächeln. Fotografiere den kunstvoll arrangierten Hauptgang auf deinem Teller und schicke ihn in die Welt. Zähle die Likes. 
Ich glaube, ich habe mir schon früh hinter die Ohren geschrieben, nicht «of’s Muul z’hocke», sondern zu erzählen. Erzählen hilft. Erzählen gibt Kraft. Und abstehende Ohren. 

5 Kommentare

  • Gisela sagt:

    Wenn denn die Ohren weit genug abstehen, kannst du segeln damit und kommst nochmals weit herum…

  • Valeria Heintges sagt:

    Liebe Theres,
    kennst Du Elizabeth Strout? Und speziell: My name is Lucy Barton? Deutsch: Die Unvollkommenheit der Liebe? (ach, diese deutschen Titel!!!)
    Musst Du lesen. Inhalt: Eine Schriftstellerin ist krank, liegt im Krankenhaus. Ihre Mutter besucht sie, und sie reden die ganze Zeit über die Leute in der Kleinstadt, in der Lucy Barton aufgewachsen ist. Alle beide mit ganz offenen Ohren!

  • katharina Steinemann sagt:

    Liebe Theres
    dank deinem wunderbaren Text schaue ich den Leuten nun vermehrt auf die Ohren und freue mich über die verschiedenen Grössen! Welche Geschichten verbergen sich dahinter, frage ich mich, und empfinde eine neue Art Sympathie für grosse und abstehende Ohren!
    Erinnerst du dich an Julie, der ihre Mutter rief, „Julie, tes oreilles“, weil sie trotz der langen Haare herausguckten. Vielleicht hatte Julie bereits eine kleine Sammlung eigener Geschichten.

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