22. Februar 2019

Panik

„… die Drohung, dass wir unsere eigene Geschichte immer wieder erzählen müssen und nach jedem Erzählen glauben, wir hätten sie noch nicht richtig erzählt. So fangen wir immer wieder von neuem an, unsere Geschichte zu erzählen, ohne je der noch viel fürchterlichen Gewissheit zu entgehen, dass wir sterben werden, ohne unsere Geschichte wenigstens einmal vollständig und vollständig richtig erzählt zu haben.“
Wilhelm Genazino, „Die Liebe zur Einfalt“, Rowohlt 1990

Wilhelm Genazino ist tot. Seit mehr als zehn Wochen schon. Ich fasse es noch immer nicht. Denke jeden Tag an ihn, als an einen Lebenden, als an einen, der an seinem Schreibtisch sitzt und tippt. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Genazino sterben könnte. Ist er aber, gestorben, mit gut 75 Jahren.
Kennen gelernt haben ich ihn am 25. April 1995, an einer Lesung an der ETH in Zürich. Aber eigentlich bin ich ihm schon früher begegnet, in seinen Büchern. „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ – bereits der Titel dieses Buches, 1989 erschienen, ist wie ein Hexenschuss durch mich gefahren, ein Jahr später folgte die Lektüre von „Die Liebe zur Einfalt“, und weil mich dieses Buch umgeworfen hat, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einem Schriftsteller einen Brief geschrieben und habe ihm genau das gesagt: Dass mich sein Buch umgeworfen hat. Nach ein paar Tagen bereits hat mir Genazino geantwortet, dann holte ich die Lektüre der Abschaffen-Trilogie aus den späten Siebzigern nach, freute mich, wenn in der NZZ seine Postkarten-Vignetten erschienen, die später im wunderbaren Band „Texte und Postkarten“ (Rowohlt 1993) vereint worden sind.
Wir haben uns über einige Jahre Briefe geschrieben, sind uns ab und zu begegnet, ein paarmal habe ich den Autor zu Lesungen eingeladen, habe über sein Werk geschrieben, Genazino ist berühmt geworden, preisgekrönt, er ist bescheiden geblieben, hat bescheiden gelebt, er war ein unglaublich freundlicher Mensch. Und unglaublich scheu. Dass er nicht mehr lebt, das er, der stets vom Verschwinden geschrieben hat, nun wirklich verschwunden ist, muss ich mir jeden Tag wieder neu vor Augen führen. Wenigstens, so hoffe ich, hat sich „die Panik der nie richtig erzählten Geschichte“ nun gelegt.

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