27. Januar 2021

Kein Zeitvertreib bitte

In Coronazeiten, las ich kürzlich in einer Zeitung, seien die Menschen auf der Suche nach einem Zeitvertreib. Spazieren, lesen, kochen, gamen, handarbeiten und Sex würden sich dazu gut eignen.
Nur, warum eigentlich will jemand die Zeit vertreiben? Ich jedenfalls möchte genau das Gegenteil: Ich möchte, dass die Zeit bleibt. Und ich möchte sie in alle Richtungen dehnen. Sie soll lang werden. Auf gar keinen Fall möchte ich sie vertreiben oder gar verscheuchen wie ein zudringliches Insekt.
Jetzt schneit es. Es hudelt so richtig, hat eine Freundin am Telefon so zutreffend beschrieben, was sich draussen abspielt. Hudelwetter. Wunderbar. Du brauchst nichts anderes zu tun, als hinauszuschauen. Zuzuschauen, wie es schneit. Und dabei spürst du die Zeit. Wie sie arbeitet. Leise. Wie sie vorbeizieht und sich in den alten Schnee legt zu den Flocken, die sich neu und weiss schichten. Jetzt. Jetzt. Jetzt.
Mit stricken habe ich begonnen, bevor meine Kinder zur Welt kamen. Als sie ins Alter kamen, in dem gestrickte Pullover peinlich sind, habe ich damit aufgehört und erst viel später wieder damit begonnen, als ich heftigen Liebeskummer hatte. Dieser Schmerz ebbte im Laufe der Zeit ab – du liebe Zeit, danke! – aber ich habe weiter gestrickt.  Zwar mochte mein Enkel schon mit drei Jahren Fleecejacken lieber als die Pullover und Jacken, die ich für ihn strickte. Dafür stricke ich wieder für die Töchter. Und für mich. Schals und Mützen, Loops. Kragen und neulich einen Pullover. Stricken ist toll. Etwas entsteht unter der Hand. Etwas wächst. Und du fällst nicht durch die Maschen. Ein Muster entwickelt sich. Nadel für Nadel. Und du verstrickst die Wolle und verstrickst die Zeit. Du vertreibst sie nicht, sondern hältst sie fest und verstrickst sie. Als den roten, aber unsichtbaren Faden. Deine Gedanken verstrickst du, deine Wünsche, ferne Bilder, kleine und grosse Ängste und alte Sehnsüchte. Und du fällst nicht durch die Maschen, denn unter der Hand  entsteht etwas und du freust dich. Beim Kochen ist es auch so. Und manchmal beim Schreiben. Die Zeit gibt die Bilder. 

6 Kommentare

  • Heinz Gadient sagt:

    Möglichst lang soll sie mir vorkommen, die Zeit die mir bleibt. Längi Zyt eben, wie es im Berndeutschen heisst. PS. Für mich das Schönste, was je ein Schwyzerörgeli „verlassen“ hat, ist ein Stück von Albin Brun und heisst „Längi Zyt“.

  • Ilsebill sagt:

    Ein wunderbarer Beitrag, der mir aus dem Herzen spricht. Mit dem Wort Zeitvertreib konnte ich noch nie etwas anfangen. Warum so etwas kostbares vertreiben? Viel gute Zeit wünscht Ilsebill

  • Dirtje sagt:

    Theres, was für ein schöner Text! Viele Grüsse Dirtje

  • jamil sagt:

    Schon ist Dein neuer Blog-Eintrag, Dein wundersam schönes Gedicht zu lesen hier im Blog, aber noch immer bin ich nicht drüber hinweg, über Deinen – grossartig formuliert ist das alles von Dir – „roten, aber unsichtbaren Faden. Deine Gedanken verstrickst du, deine Wünsche, ferne Bilder, kleine und grosse Ängste und alte Sehnsüchte“ – ich sinniere weiter darüber und weiss doch nicht. Grosses Glück ist das, dass Du also „nicht durch die Maschen“ gefallen seist. Passiert nicht jedem.

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