15. Januar 2021

Ganz in Weiss

Bild: Annelis Gerber -Halter

Die Nacht etwas heller als üblich. Das Schneelicht hellt auch die Dämmerung auf. Und schon vorher das schabende Geräusch des Schneepflugs vernommen. Mit der stillen Verwandlung der Welt allein sein am frühen Morgen. Der Kaffee schwarz und heiss, die Zeitungen noch nicht im Kasten und die beiden Nachbarkatzen, die sonst um diese Uhrzeit immer Einlass begehren, bleiben heute aus. Dieser weisse Mantel da draussen. Diese Unschuld. Diese Stille. Und es schneit noch immer. Unablässig dem fallenden Schnee zuschauen. In der Baumschule vor dem Fenster bilden die akkurat aufgehäuften Äste und Ästchen kleine Schneehütten; letzte Woche ist der Baumwärter am Werk gewesen und hat die Obstbäume geschnitten. Zuoberst auf einem dieser Bäume sitzt eine Krähe. Ich mache mit den Augen eine perfekte Schwarz-Weiss-Aufnahme. Hinter den Augen rast die Zeit auf Kufen vorbei: Es hat geschneit über Nacht. Der Schulweg beträgt gute zwei Kilometer zu Fuss auf einer ungeräumten Nebenstrasse. Vor dem Unterricht müssen alle Kinder in die Schulmesse. Ich bin die Kleinste, die grosse Schwester nimmt mich bei der Hand. Wir tragen Röcke und unsere Wollstrumpfhosen trocknen erst im Laufe des Vormittags. Dennoch, wir lieben den Schnee. Ein paar Jahre später Skitag  im Gymnasium. Der Sportlehrer deponiert mich auf einem Idiotenhügel. Ich soll hier Stemmbogen üben. Als er mich am Nachmittag endlich abholt, sagt er lachend: Dich hätten wir beinahe vergessen. Aber der Schnee kann nichts dafür. Er ist nur der Vordergrund. Heute verrichtet er erneut zuverlässig seine Aufgabe: Er fällt. Er ist überall, im Vordergrund und im Hintergrund füllt er die Welt. Ein Wunder, wie winzige, federleichte Flocken immer dickere Schichten bilden und zu Lasten werden auf Dächern, Bäumen und Strassen. Jetzt verschwimmt der Horizont. Die Farben verschwinden. Die Krähe fliegt weg. Nur wir bleiben. Wir proben das weisse Leben und üben weiterhin Stemmbogen in der unterkühlten Zeit. 

6 Kommentare

  • Ursula Schenkel sagt:

    So schön, eine Fortsetzung der Geschichten zu den Bildern von Annelis! Ich geniesse diese Texte, manchmal zurückschauen auf Erlebtes, auf Erinnerungen und dann die plötzlichen, die unerwartenen Wenden.
    Stemmbogen fahren, fast vergessen werden, und das weisse Leben proben. Eine wunderschöne Sprache! Ich freue mich auf nächste Blogs. Ursula

  • Gisela sagt:

    Ganz in weiss.. Wären wir auch gerne. Jetzt sind wir ganz in Gelb, ab Montag ganz in Orange…
    Hier in Umbrien, Mittelitalien. Schaue mit Nostalgie und Sehnsucht auf die weissen Bilder die mich aus des der Schweiz erreichen. Lust auf Wandern im Winterwald, das Geräusch des knirschenden Schnees.
    Derweil, Spaziergänge durch die Felder wo schon wieder knalliges Grün sich ankündigt, vorerst nur wenige Zentimeter hoch, aber doch klar grün. Nur weit weg am Horizont die Sibillinen aus dem Appenin, weisse Begrenzung.
    Weiss hier würde bedeuten hinaus gehen, Cafè trinken in der Bar, Freund/innen treffen, gemeinsames Palavern und Lachen.
    Farbe ist relativ.

  • Verena sagt:

    Wunderschön – meine Gefühle für Schnee sind identisch – nur könnte ich sie niemals so treffend in Worte fassen. Als Kind wünschte ich mir immer soviel Schnee, dass ich aus dem Fenster im ersten Stock runterspringen könnte – leider nie passiert. Aber gestern in der Tagesschau zeigten sie einen Jungen der genau das tat!

  • Barbara sagt:

    Ja, der Stemmbogen. Ein Wort, das Erinnerungen hereinschneien lässt. Was man nicht alles stemmen musste: Die Mühsal, wenn man aus der Skibindung gehebelt wurde, mit Wollfäustlingen voller Schneeklümpchen den Drahtzug wieder auf den Skischuh heben, die klebrige Schneeschicht an den Sohlen, immer wieder rutschte der Fuss vom Holzski, der Hebel, der sich nur mühsam nach vorne runterklappen liess und wieder hochsprang, die Furcht, es allein nicht zu schaffen und die Scham, wieder als letzte zur Gruppe zu stossen. Die Angst, im Weiss verloren zu gehen.
    Ich sitze in Savognin am Schreibtisch, zauberhaft wie der Schnee alle Leerstellen aufgefüllt hat. Heute zeigt die Sonne, was die Natur vermag. Ich schaue vom Tisch aus auf die Skipisten gegenüber, eine Gruppe Skifahrer*innen, nicht wenige, die ihnen folgen. Ich würde gerne ins Museum, im Café eine Freundin treffen, im Julierturm Musik hören. Logik ist auch relativ. Stemmbogen üben, du sagst es, liebe Theres.

  • elmar sagt:

    … und vor dem Stemmbogen: die sperrigen Schnallen an den Skischuhen schliessen. Mit den kalten, klammen, kleinen Kinderhänden war das so unglaublich schwierig. Aber es gelang.

  • Gabriela sagt:

    Oh, wie fantastisch ist dieser Text und wie passend das Bild dazu! Das „Gespür für Schnee“ aus der frühen Kindheit begleitet auch mich bis heute. Noch immer warte ich sehnsüchtig wie ein Kind auf den ersten Schnee. Glücksgefühle, wenn am Morgen alles weiß ist und die Welt viel sanfter und stiller wird. Und ich bilde mir ein zu hören, wie die Schneeschieber der Männer auf dem Asphalt kratzen und wie die „Schneeschnäuze“ über die Straße rumpelt und ächzt…
    Angst im Schnee verloren zu gehen, das hatte ich auch als ich im Schneegestöber vom Schlittelhügel aus den Kirchturm im Dorf nicht mehr sehen konnte…tempi passati!

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