3. Dezember 2019

Generation Praktikum

Einmal im Jahr muss ich in die Kirche. Immer am dritten Donnerstag im November kommt die Familie zusammen. Treffpunkt ist der Friedhof. Man muss schon einen sehr guten Grund haben, um nicht am frisch geschmückten Familiengrab zu erscheinen. Dort gedenken wir unserer vielen Toten aus drei Generationen, dann streben alle in die Kirche. Hinterher wird es Luzerner Chügelipasteten und Weiss- und Rotwein geben, in unserem ehemaligen Elternhaus, darauf freuen wir uns alle, schon vor der Messe.
In der riesigen, fast leeren Kirche füllen wir immerhin fast zwei Bänke. Verlegen fallen einige von uns in den dünnen Gesang ein, kräftig angestimmt von einem dunkelhäutigen Priester vorne am Altar. Der Organist hat heute frei, aber meine Schwägerin kennt die heutigen Kirchenlieder und führt mit ihrem schönen Sopran gemeinsam mit dem Priester den verzagten Chor an. Ich hingegen hoffe auf eines der alten Lieder, deren Melodie und Text ich noch immer auswendig kenne, am liebsten ein Marienlied, nur haben die ja bekanntlich im Mai Saison. So verliere ich mich in die Wand- und Deckengemälde der barocken Kirche. Das von den Kirchgängern mehrfach gemurmelte ‚Herr erbarme dich’ kommt mir vor wie ein Zauberspruch, die ganze Liturgie wie ein gut eingeübtes Frage- und Antwortspiel. Eine Überraschung gibt es doch noch: Fritz Schnurrenberger ist gestorben, 87 jährig. Es habe Gott dem Allmächtigen gefallen, seinen Diener Fritz Schnurrenberger in seinem siebenundachtzigsten Altersjahr vom zeitlichen in das ewige Leben abzuberufen, spricht der Priester vorne ins Mikrofon, er artikuliert ausgezeichnet, nur über die Aussprache des ungewohnten Namens Schnurrenberger stolpert er mehrfach. Elegant meistert er beim nächsten Mal die Klippe, bittet er doch ganz einfach, für den verstorbenen Bruder Fritz Schnu zu beten. Während gebetet wird, sinne ich über das alte Rätsel nach, weshalb es Gott gefällt, jemanden abzuberufen. War denn Fritz Schnurrenberger ein Diplomat gewesen hier auf Erden? Plötzlich erklingen die Schellen, einmal hell, einmal dunkel, wir stehen auf, wir knien hin, stehen wieder auf, setzen uns. 
Vor der Kirche frage ich meine Schwägerin, wie der Pfarrer, der eben die Messe gelesen hatte, bei der Dorfbevölkerung ankomme. Das sei doch nicht der Pfarrer gewesen, sondern ein Praktikant, klärt sie mich auf. Als Praktikant müsse er halt in Gottes Namen üben und werde deshalb in den Abendgottesdiensten eigesetzt, die meist nur ein paar alte Leute besuchten, von denen die meisten erst noch schlecht hörten. Allerdings, Herr Nafissatou mache seine Sache bereits ausgesprochen gut, fügt sie nach einer kurzen Pause an und in ihrer Stimme schwingt ein wenig Stolz mit. Genau, sehr gut sogar, bestätige ich, als sie mich mit einem nach Zustimmung verlangenden Blick anschaut. Ich nicke noch immer und denke, ein Praktikum direkt bei Gott würde sich doch in jedem CV gut machen.  

2 Kommentare

  • Ina Brueckel sagt:

    Liebe Theres, ich danke Dir für diese Perle. Es bleibt zu hoffen, dass Deine hier publizierten Miniaturen einmal als versammelte Texte erscheinen. Für die Veröffentlichung würde ich gerne eine Illustration beisteuern. Wunderbar, wie die wenigen Zeilen eine ganze innere Leinwand zu füllen vermögen.

  • a.u., bekannt mit nelly rasante und mit dir auch fast... sagt:

    Ach, Theres, wie ich Deine Texte liebe. Auch dieser, auch der vom Aufenthalt in jener Kirche, in der auch viele Stunden in der Kindheit zu verbringen hatte, auch dein „von Sinnen“, der einen schon sehr ins Sinnieren bringen könnt, auch dieser. Danke Dir sehr, Du Perle –

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