20. März 2020

Ab heute wäre Frühling

Draussen tobt der Frühling, ganz offiziell seit heute morgen früh um 04.49 mitteleuropäischer Zeit. Zugvögel allerdings seien bereits eine Woche früher als üblich zurückgekehrt. Nun zwitschert das vereinte Vogelvolk wieder vor Tagesanbruch, Magnolien platzen auf, Forsythien präsentieren ihr gelbestes Gelb. Im Wald die Buschwindröschen, die Schlüsselblumen, das gurgelnde Wasser in kleinen Bächen. Noch warten wir auf das zarte Frühlingsgrün der Bäume und Büsche, warten wir auf die Kirschblüten. Etwas bange plange ich auf die hellrosa Blüten des verkrüppelten Quittenbaumes unweit vor hier. Ob sich das Wunder auch dieses Jahr nochmals vollziehen wird an diesem sturmerprobten Solitär?
Draussen tobt der Frühling und er macht es gut. Breitwillig überlassen wir ihm das Feld und nehmen weniger Notiz von ihm als in andern Jahren. Nicht der Frühling ist stumm, aber zusehends sind es die Menschen. Etwas Unfassbares verschlägt ihnen die Sprache. 
Zufällig arbeite ich an einem Text, der in einem Teil in den späten Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts spielt. 1938/39 grassierte die Maul- und Klauenseuche im Kanton Luzern, eine  ‚Geißel, welche die Landwirtschaft heimsucht’. Beim Ausbruch der Seuche zu Beginn schlachtete man die kranken Tiere, dann begann man mit dem Durchseuchen. Die Gehöfte wurden abgesperrt und mit ‚Stallbann’ oder ‚verschärftem Stallbann’ belegt. Das hiess, Höfe und Dörfer wurden gegen die Aussenwelt abgeriegelt und die Menschen durften die Gemarkungen der Dörfer nicht überschreiten. Nicht nur der Dorfpolizist, sondern auch der Seuchenpolizist tauchte auf. Hunde wurden angekettet oder angebunden, Katzen eingesperrt. Gewehrtragende bewachten die Bauern, Passanten wurden mit Lisollauge abgewaschen, auch Ställe, in denen keine kranken Tiere waren, wurden lisolisiert. Den Bauern wurden Desinfektionsmittel wie Soda, Sapokresol, Ärzkalk und Lisolvitriol sowie Kartoffelspritzen für die Desinfektion zur Verfügung gestellt. Niemand durfte mit andern Menschen oder Tieren in Berührung kommen, weder Schule noch Kirche noch Wirtshaus durften besucht werden. Der häufigste Überbringer des Virus übrigens war der Tierarzt selbst. 
Man soll das alles nicht falsch verstehen und es ist nicht zynisch gemeint. Damals waren Kühe, Schafe, Schweine gefährdet, heute sind es leider Menschen. Und auch heute sind viele Betriebe, wie die Bauern damals, von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krankheit in ihrer Existenz bedroht und mit verschärftem Bann sind wir gegenwärtig auch belegt. Die noch erlaubt zu überschreitenden Gemarkungen werden ständig enger – mit Recht und aus guten Gründen.

Zuversicht zumindest für den Quittenbaum…

5 Kommentare

  • Gisela sagt:

    Ich lebe in Umbrien in Italien. Mir scheint, je mehr der Bewegungsraum eingeschränkt wird, desto deutlicher treten die Einzelheiten in Erscheinung. Mir fällt jedes neuerblühte Pflänzchen auf, jeder Vogel der neu im Konzert mitflötet. Ich höre die einzelnen Nachbarn, die sich über Felder und Zäune hinweg buongiorno zurufen und weit entfernt mal ein Traktorengeräusch. Und immer wieder der Gedanke an m. Haushofers Buch „Die Wand“.

  • Dominik Brun sagt:

    Wenn nur nicht nach dem „Toben des Frühlings“ ein Frost zuschlägt und beweisen will, dass auch die Natur sich gegen Absurdes nicht wehren kann.
    Danke für deinen Text (eine spätere Klauenseuche habe ich als junger Mensch auf einem Minihof selber miterlebt)
    Herzlich
    Dominik Brun

  • Nelli sagt:

    Nachdem wir heute an besagtem Quittenbaum vorbeimarschiert sind, hoffe ich, mit Dir, dass er den Atem nicht anhalten werde, nicht wie wir, die wir in diesen seltsamen Zeiten oft tun, möge er explodieren und eine Fülle von Blüten hervorbringen!
    Ein wunderschöner Text!

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