24. November 2020
Zu meiner Zeit
Nach der Vernissage von ‚Lange Jahre‘ hat mich ein Freund gefragt: Wann denn war eigentlich deine Zeit? Ich muss ihn wohl mit grossen Augen angeschaut haben, denn er hat nachgeschickt: Du hast vorhin im Gespräch mit der Moderatorin den Ausdruck ‚zu meiner Zeit‘ verwendet. Darüber bin ich erschrocken, stammt doch die Wendung eindeutig aus dem Vokabular meiner Eltern. Seinerzeit, hat mein Vater gesagt, bekam unsereiner 25 Rappen Stundenlohn in der Sägerei. Und meine Mutter äusserte in gewissen Situationen: Zu meiner Zeit haben die jungen Frauen noch gewusst, was sich gehört.
Jede Zeit ist unsere Zeit. Und durch die Gegenwart schimmern die anderen, die ferneren Zeiten durch. Sie sind stets da, sie laufen mit. Unter der dünnen Membran des Jetzt pulsen Jahre und Jahre. Sie haben uns geformt, sie stellen sicher, dass wir einigermassen richtig ticken.
Mitten in solchen Überlegungen hat eine befreundete Autorin, die sich in unser Buch ‚Lange Jahre‘ vertieft hat – siehe dazu https://roth-hunkeler.ch/kinder-buecher-und-baeume/ – nach einem gemeinsamen Kinderbild von Annelis Gerber-Halter und mir gefragt. Es gibt keines, zu meiner Zeit hat man noch nicht so viel fotografiert, auf dem Land erst recht nicht, bin ich versucht zu sagen. Und mir fällt ein, dass der Vater von Annelis Uhrmacher war. Stand man in seinem kleinen Uhrengeschäft an der Hauptstrasse, konnte man das Verstreichen der Zeit mehrstimmig wahrnehmen. Und jetzt ist wohl die Coronazeit unsere Zeit. Mitten in diese Zeit ist ‚Lange Jahre‘ gefallen. Weil dem Projekt eine langjährige und ganz unspektakuläre Freundschaft zu Grunde liegt, kommt dieses Thema oft auf im Gespräch mit Besuchenden der Ausstellung. Plötzlich erinnern sich Frauen an ihre Schulfreundinnen und fragen sich, warum sie einander aus den Augen verloren haben. Oder sie erzählen von Freundinnen, die weggezogen, verstummt, verschollen, verstorben sind und es ist ein Moment lang still und Personen sind anwesend, die gar nicht wirklich da sind. Kurze Zeit später sind wir wieder in unserer Zeit und feiern alle Arten von Freundschaften.
Mit ihr zum Beispiel wäre ich gerne befreundet. Wir würden über das Theater sprechen, wo sie arbeitet. Als Kostümbildnerin. Sie würde mich mitnehmen in den Fundus, endlich hätte ich Zugang zu einem Ort, den ich mir immer erträumt habe. In Kostüme schlüpfen, in Rollen, und dabei würde sie mir erzählen, wer in der roten Pluderhose und dem gelben Turban welchen Auftritt hatte. Und ich würde ihr an den Lippen hängen und ein paarmal niesen, denn es schwebte viel Staub in der Luft. Plötzlich würde die Kostümbildnerin sagen: Los, gehen wir, ist langweilig hier. Und ich würde kopfschüttelnd hinter ihr her trotten und uns abends was Schönes kochen, denn kochen, das kann sie nicht. Nur, warum bin ich mir da so sicher?
(Bild: Annelis Gerber Halter, Acryl, Oktober 2020, figuriert nicht im Buch ‚Lange Jahre‘, aber man kann dieses und viele weitere Bilder an der Ausstellung anschauen. Galerie ROLF, Manufaktur, Unteraltstadt 16. Zug, geöffnet jeweils Sa/SO 14-17 Uhr bis 20.12.2020 oder auf Anfrage. Buch ‚Lange Jahre‘, Zytturm Verlag Baar 2020, Fr. 35.- bestellen bei roth.hunkeler@bluewin.ch) .
Liebe Theres
jetzt habe ich deinen Text nochmals gelesen. Und es ist schon so, in meiner Zeit ist auch die ferne Zeit enthalten. Wann beginnt meine Zeit und wann endet sie? Auch nach dem Tod sprechen die anderen dann von seiner, ihrer Zeit. Meistens, so dünkt es mich, ist in jener Zeit oft etwas Schwereres, Schwierigeres enthalten, ein Vorwurf mitunter auch. In meiner Zeit gab es noch keine Fernseher, als Appell an die heutige Internet, TV und Medienjugend etwa. In meiner Zeit hatten wir nur sonntags Fleisch (vielleicht haben die Menschen sich dadurch gesünder ernährt. Oder vermutlich kriegte nur der Vater Fleisch- zu seiner Zeit, in jener Zeit Mir fällt grad ein: In jener Zeit…so berichten doch auch die Evangelisten über das Leben Jesu…da muss wohl von seiner Geburt bis zu seinem Tode gemeint sein.Wir können uns jedoch in der jetzigen Zeit an die frühere erinnern. Immerhin. Ketzerisch kommt mir der Gedanke, wenn doch die JüngerInnen sich zum Abendmahle trafen…was gab es dann zum Frühstück, zum Zmittag und warum sassen sie in jener Zeit grad abends zusammen? War das in jener Zeit Mode? Zumindest in der heutigen Zeit wird man eher zum Znacht als zum Zmorge eingeladen. aber früher, zu seiner Zeit war das halt anders. So viel zum Thema. Herzlich aus der jetzigen Zeit: Mario
Wieder ein sehr schöner Theres-Text, auch ich danke dafür.
Was fällt mir dazu ein? Was fällt dir ein! – Ein schimpfender Ausdruck, so erinnert man es vielleicht, „aus seiner Zeit“.
Wobei die Zeit ja, Banalität auch das, niemandem gehört.
Niemand hat sie je gesehen…(gäbe auch ein Bild, vielleicht. So wie die Frau in obigem Bild laut der Gewissheit von Theres nicht kochen kann, herrlich).
Am besten gefällt mir momentan der letzte Satz: „Nur, warum bin ich mir da so sicher?“- In meiner akuten Spintisiererei einzig das: Dass im Wort „sicher“ ja auch das Wort „ich“ steckt. Feststeckt, oder auch nicht. Ach ich könnt noch vieles zu alledem schreiben, „verschone uns „(das „o Herr“ lassen wir hiemit aus)…, jawolll, tu ich.