6. Januar 2020

Von Sinnen

Bild und Foto: Gabor Fekete, Luzern

Von Sinnen

Vor kurzem eine alte Frau besucht. Sie hört nicht mehr gut, sieht nicht mehr gut. Sie ist achtundneunzig Jahre alt und hat vom Sommer erzählt. Von den Gartenarbeiten, die sie liebt. Jeden Tag denke sie an die Blumenzwiebeln, die sie im Herbst in die Erde gesteckt habe. Sie freue sich unglaublich auf die Tulpen des Frühjahrs. Und am allermeisten freue sie sich darauf, wieder Bohnen abzulesen in ihrem Garten gegen Ende des Sommers. Ob sie denn die Bohnen noch zu sehen vermöge, habe ich gefragt. Sie hat eine Weile überlegt und dann geantwortet: Die Hände können ja auch sehen. Auch die Füsse, denke ich, können sehen. Die beiden bezehten Wesen sind zuverlässige Augen und nehmen ständig die Welt auf. Du bist stets auf leisen Sohlen gegangen. Und noch immer. Und du wirst auf leisen Sohlen gehen. Dann. 

5 Kommentare

  • Ursula Schenkel sagt:

    unglaublich schön, von Sinnen schön!Die Frau könnte mich sein, und ich bin „erst“ 70! : )

  • Annelis Gerber-Halter sagt:

    Wunderbar!
    Mir kommt konstatin weckers lied in den sinn:
    „einer braucht der mensch zum treten, einer hat er immer, der ihn tritt…“
    Hier aber eine so viel sanftere variante:
    eine wunderschöne landschaft, die einen „ tritt“?
    Das leise abgehen, auf leisen sohlen gehen, wohin auch immer….?
    Und nie mehr getreten werden, und wenn dann das abgehen auf so poetischen sohlen sein wird, kann es nur gut gehen…

  • Heinz Gadient sagt:

    Es ist schon ein paar Jahre her – ich ging ins Kino und neben mir sass eine Frau so um die Fünfzig. Sie beugte sich etwas zu mir und sagte: „Darf ich sie während des Films vielleicht manchmal etwas fragen. Ich bin blind und es könnte sein, dass ich den Faden verliere.“ Sie hat nichts gefragt und als der Film zu Ende war meinte sie es sei alles gut gegangen. Ich bot ihr an sie hinaus zu begleiten und sie bedankte sich, das sei sehr nett, sie müsse zur Bushaltestelle, nicht weit vom Kino. Dort verabschiedete ich mich, sie bedankte sich nochmals und fragte: „Darf ich noch schauen wie sie aussehen?“ (Ja sie sagte schauen) Dann fuhr sie mir mit den Fingern einer Hand ziemlich schnell von oben nach unten übers Gesicht, lächelte und sagte: “ Ja genau.“ Ich war baff und fast etwas verliebt.

  • Jörg Gygax sagt:

    Wunderbar, treffend und berührend! Vor einiger Zeit, anlässlich der ersten Sitzung bei der Physiotherapeutein, sagte sie zu mir: „Ich werde jetzt mit meinen Händen einfach ein wenig auf ihrem Rücken schauen…“

    „Du bist stets auf leisen Sohlen gegangen. Und noch immer. Und du wirst auf leisen Sohlen gehen. Dann.“
    Das sind Worte wie ein Bild. Und es lohnt sich, dieses Bild zu verinnerlichen, denn gehen werden wir alle; früher oder später…

  • Margrit Schriber sagt:

    Man muss diese Frau gern haben. Sie hat mit wenigen Sätzen so viel zu sagen. Sie kennt das Leben. Sie liebt es über alles. Und gerade deswegen akzeptiert sie den Tod. Sie geht leise. Sie schaukelt als Blatt vom Baum ins Tulpenbeet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Blog via Email abonnieren

Gib deine E-Mail-Adresse an, um diesen Blog zu abonnieren und Benachrichtigungen über neue Beiträge via E-Mail zu erhalten.

Loading

Deine Daten werden ausschliesslich für den Newsletter verwendet. Mehr dazu findest du in der Datenschutzerklärung.