24. Juni 2020
Hippocampus – für Livia
In meiner Wohnung befindet sich ein Seepferdchen. Manchmal ist mir seine tote Anwesenheit unheimlich. Dennoch muss ich es oft betrachten. Meine Tochter hat mir das Wesen geschenkt. Kleine Erinnerung an das Meer. Das Seepferdchen ist ausgetrocknet und riecht nach nichts. Nicht nach Fisch, nicht nach Tang, sondern schlicht nach gar nichts. Es hat zwei Augenlöcher, aber die eigentlichen Augen, die es in seinem Schwimmerleben unabhängig voneinander bewegen konnte, sind nicht mehr vorhanden. Ich versuche, mir ein schlafendes Seepferdchen vorzustellen, habe aber keine Ahnung, ob es sich dazu vielleicht unter einer Schlingpflanze verstecken muss. So richte ich ihm post mortem ein Schlaflabor ein und gebe ihm ein schönes Bett. Damit das Fischwesen, das selbst aussieht wie ein Fragezeichen, im Traum die grossen Fragen der Menschheit lösen kann.
Bei mir zu Hause gibt es ein weiteres totes Familienmitglied dieser Wesen – es hängt an einer Schnur vor dem Wohnzimmerfenster. So kann es nach draussen sehen. Es bewegt sich leicht im Wind. Hängt in der Luft. Postmortem. Dem falsches Element zugeordnet – naja – wer weiss schon, was nach dem Tod kommt.
Das Seepferdchen habe ich von meiner Schwester Livia geschenkt bekommen.
Wunderbar diese beiden Texte, danke! Kommen mir ja fast etwas gespenstisch
in die „gute Stube“, diese eindrücklichen und mir per sofort lieben und
„bedenkenswerten“ Texte –