28. Juni 2019

Frau im Dunkeln

„Was für eine Dummheit zu glauben, man könnte den eigenen Kindern etwas über sich erzählen, bevor sie nicht mindestens fünfzig sind. Von ihnen zu verlangen, als Mensch betrachtet zu werden, und nicht als Funktion.“

Vor 13 Jahren ist dieser Roman unter dem Titel „La figlia oscura“ erstmals erschienen. Er könnte auch vorgestern erschienen sein, so aktuell mutet er an. Eine selbständige Frau um die 50, Leda, verbringt ihren Urlaub in Süditalien und beobachtet am Strand einen neapolitanischen Familienclan. Insbesondre die junge Nina und ihre kleine Tochter fallen ihr auf, das vordergründig innig-sinnliche Verhältnis, das die beiden zueinander haben. Leda, Englischlehrerin in Florenz, stammt aus dem Süden des Landes und hat selber zwei halbwegs erwachsene Töchter, die nun in Kanada leben bei ihrem Vater und mit ihr ab und zu telefonieren. Leda glaubt, sie sei nun wieder frei und befreit von Alltagssorgen, doch je mehr sie Nina beobachtet und das zunehmend problematische Verhältnis, das diese zu ihrer Tochter hat, je stärker fallen ihr Situationen aus ihrem eigenen Leben ein. Und schnell entwickelt der Text einen Sog und zieht mich als Leserin hinein in die Ambivalenz, die so viele Frauen schon lange und bis hinein in den heutigen Tag kennen: Der hohe Anspruch, eine gute Mutter zu sein und dabei gleich wohl sich selbst nicht abhanden zu kommen und eigene Pläne zu verwirklichen.
Leda, die Ich-Erzählerin, beschönigt weder die Geburt noch die Mutterschaft, im Gegenteil: Sie beschreibt Verzweiflung und Überforderung und Müdigkeit, beschreibt mütterlichen Machtmissbrauch, beschreibt auch, wie ihre nachpubertären Töchter Blicke auf sich ziehen, die eben noch ihr, der schönen, erfolgreichen Frau gegolten haben, und wie sie, die Mutter, gleichsam aus dem erotisch aufgeladenen Blickfeld fällt. Und immer wieder verwebt Leda das alles mit der gleissenden Gegenwart der Urlaubstage am Strand, wo sie ihr nächstes Semester vorbereitet und ihr die Familie aus Neapel viel zu nahe rückt und ihr immer mehr auf den Geist geht. Dass sie viel dazu beiträgt mit einem auch sie selbst verstörenden Diebstahl, ist ihr zwar klar, aber sie kann sich nicht mehr befreien.
Ich habe von Ferrante ausser „Lästige Liebe“ noch nichts gelesen. Vielleicht werde ich mich nach der Lektüre dieses Buches nun ihrer grossen Neapel-Saga zuwenden. Vorher aber werde ich „Frau im Dunkeln“ nochmals lesen, und nochmals, begonnen habe ich schon mit der zweitmaligen Lektüre. Ein Buch, das ich gerne mit jemandem diskutieren würde – wer meldet sich?


Einen Kommentar

  • Barbara sagt:

    Liebe Theres, „Frau im Dunkeln“, einige Passagen kann ich schon fast auswendig. Bereits beim ersten Lesen hat sich das Buch ganz weit hinauf in die Liste meiner Lieblingsbücher geschwungen, beim zweiten Mal habe ich gestaunt, was mir beim ersten Lesen alles entgangen ist und nachdem ich gewisse Passagen wieder und wieder gelesen habe, ist es mir zu einem Modell für mein eigenes Schreiben geworden. … Ich spüre seit langem, was und wie ich schreiben möchte, nun hat mir Elena Ferrante vorgezeigt, wie ich es – auf meine Art – machen kann. Nach „Lästige Liebe“ und „Frantumaglia“, das mich in einer kurzen Schreibkrise in Italien gerettet hat, lese ich als Ehrerbietung an die Autorin die neapolitanische Sage. Immer noch nicht mit Begeisterung, aber mit grosser Ehrfurcht. … Ich bin keine Mutter, ich hätte eine sein wollen und auch nicht, und vielleicht kam dieses „nicht“ aus der Angst vor dem „Dunkeln“. Darüber schreibe ich unter anderem in meiner Geschichte. … Und ich melde mich zur Diskussion, vielleicht (wie früher) als Erste.

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