13. Oktober 2019

Wo Familie weh tut

„Romains Blick blieb fliehend, auch wenn manchmal ein kurzes Lächeln traurige Dankbarkeit auszudrücken schien. Er hatte die kaputte Haut seiner Wangen mit Kölnisch Wasser abgerieben; das tat er immer, um zu kaschieren, dass er getrunken hatte. Die Perrier-Komödie hatte Edouard gern mitgespielt und vor dem schlichten Wunder, dass Romain nach den Jahren tödlichen Wahnsinns auf der Strasse an diesem Tisch sass, darauf verzichtet, Ansprüche zu stellen.“

Das Buch ist eine Wucht. Es erreicht uns diesen Herbst aus Paris und stammt nicht etwa aus der Feder des berühmten Narzissten, nein: Seine Autorin ist 58 Jahre alt, in Genf geboren und sie lebt bereits seit 32 Jahren in Frankreichs Metropole. Ihr neues Buch aber spielt zum grossen Teil in Bordeaux, nur ist der Ort unwichtig, denn der Roman spielt in unserem innersten Kreis, in bedrängender Nähe sozusagen: ‚Eine Familie’, lautet sein schlichter Titel, geschrieben hat das Werk die Autorin Pascal Kramer, die vor zwei Jahren den Schweizer Grand Prix Literatur erhielt, zum Glück, denn dadurch ist sie auch hier landesweit bekannt geworden. Das Buch ist in der Edition Blau im Rotpunktverlag erschienen, Andrea Spingler hat auch ‚Une famille’  (by Editions Flammarion, Paris, 2018), wie schon weitere Romane der Autorin, vorzüglich übersetzt.
Worum geht es? Danielle und Olivier sind eben zum vierten Mal Grosseltern geworden, ihre ältere Tochter Lou hat Jeanne geboren. Lou’s Schwester Mathilde reist eigens für einen Überraschungsbesuch aus Barcelona an, und Edouard, der Bruder, nimmt sich zwei Tage frei, um die Ankunft der neuen Nichte gemeinsam mit der Familie zu feiern. Was zu einem Tag des Glücks werden könnte, erweist sich als das Aufplatzen der alten familiären Wunde und der nun brutalen Gewissheit, dass sie nie mehr heilen wird: Romain, erster Sohn Danielles aus einer prekären Ehe und Halbbruder von Lou, Edouard und Mathilde, hat sich wieder aus der Spur katapultiert. Der einst so sanftmütige Junge ist Alkoholiker, hat sich schon als Jugendlicher immer wieder ins Delirium gesoffen. Und wäre wohl auf den Strassen von Paris elendiglich verreckt, hätte ihn sein Halbbruder nach langen Jahren der Ungewissheit und ohne jeglichen Kontakt zur Familie nicht gefunden und ihn nach Bordeaux zurückgebracht. Nun ist Romain nach einem Entzug, einer lang andauernder Therapie und vermeintlich hoffnungsvollen drei Jahren Arbeit in einer Gärtnerei wieder abgestürzt. Nach und nach kommt ans Licht, dass er die Familie schon lange Zeit erneut getäuscht hat mit seiner noch immer gewinnenden Art. Halbwegs unbemerkt hat er sich wieder in ihre Wohnung eingeschlichen und sich in Portemonnaies und an Wertgegenständen bedient. Vielleicht hat sich diese Familie auch leichthin täuschen lassen, fehlten ihr doch schlichtweg die Kraft und wohl auch der Mut, immer und immer wieder genau hinzusehen, nachzufragen und Zeichen, die in die schwierige Richtung wiesen, überhaupt wahrzunehmen.
Wie erzählt Pascal Kramer? Sie inszeniert dieses so heutige Familiendrama ganz subtil und deshalb so überzeugend. In fünf unterschiedlich langen Kapiteln gibt sie jedem Mitglied der Familie (mit Ausnahme Romains) eine Erzählstimme. Und jede dieser Stimmen setzt am Tag der Ankunft der kleinen Jeanne an und beleuchtet aus je eigener Optik und in einer immer gleichen Spanne von zwei Tagen die familiären Verstrickungen, ausgelöst durch Romain, dem abwesenden Schweiger. Wer nicht anwesend ist, ist es dadurch sehr, hat Robert Walser so ähnlich mal geäussert. 
Wie sich die Lebensuntüchtigkeit des Ältesten, sein Drang, sich allem zu entziehen, was Verpflichtung sein könnte, ganz schnell zur Familienkatastrophe entwickelt, welche Kräfte da im Untergrund spielen und an jedem Familienmitglied zerren, wie diese äusserlich noch immer halbwegs intakte Familie leidet und immer wieder implodiert, wie sich die Gewichte verschieben und das gemeinsame Bangen und die Fürsorge diesen Romain wohl fast erdrücken, das bekommt man als Leserin von ‚Eine Familie’ in zurückhaltend bemessener, aber hochwirksamer Dosis mit. Pascal Kramer, eine Autorin, deren Spezialität familiäre Kammerspiele sind, lässt uns durch ihre starke Sprache und ihre genaue Figurenführung eintreten in Räume der Angst, der Schuld, der Schlaflosigkeit und der Verzweiflung. Sie öffnet aber auch Räume der Nähe, der Verbundenheit und der Zärtlichkeit – und gerade dadurch trifft uns dieser Roman an unseren weichsten Stellen. 
Pascale Kramer, ‚Eine Familie’, Roman, Edition Blau im Rotpunktverlag 2019

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