4. Juni 2022

Tiki

Es regnet heftig frühmorgens. Auf dem Vorplatz vor dem Haus eine riesige Pfütze. Der Garten draussen ein grosses tropfendes Grün, alle Blätter und alle Sträucher glänzen. Heute wäre Schulreise. Sie wird abgesagt. Das Wetter. Ich bin traurig und erleichtert zugleich. Ich habe mich auf die Schulreise gefreut und ich habe mich davor gefürchtet. Ich weiss nicht, wie reisen geht. Und wie wandern. Unbedingt geeignetes Schuhwerk tragen, stand auf dem Zettel, den der Lehrer uns mitgab. Ich weiss, was Tagwerk ist. Das Wort kommt in einem Lied vor, das der Vater im Männerchor singt. Aber Schuhwerk? Arbeiten denn Schuhe? Und eine Pelerine sollen wir mitnehmen. Habe ich das?, frage ich die Mutter. Du kannst meine einpacken, sagt sie. 
Im Rucksack, ausgeliehen von einer Tante, befindet sich auch der Proviant. Ovosport, Tutti Frutti, zwei Briefchen Tiki-Pulver, eine Feldflasche aus Plastik mit einem sonderbaren Schraubverschluss und einem Deckel, der als Becher dient. Trinkt man aus einer Feldflasche bloss auf dem Feld? Der Tee, die belegten Brote und das gekochte Ei wären erst am Morgen zubereitet und in den Rucksack gelegt worden. Weil es regnet, geschieht das nicht. Aber den speziellen Proviant nimmt die Mutter aus dem Rucksack und sperrt ihn weg. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, sagt sie und auf meiner Zunge prickelt es, wenn ich an Tiki denke. Später, auf dem Schulhof, fällt Marianne auf. Sie ist als Einzige mit dem Rucksack erschienen. Ihren Schulranzen hat sie nicht dabei. In der Pause isst sie ihre belegten Brote. Sie gibt niemandem etwas ab. Heute ist Schulreise, denke ich. Klewenalp und Pelerine und Schuhwerk und Feldflasche und Proviant und Dampfschiff kreisen in meinem Kopf. Ich werde seekrank. Von Ferne höre ich die Stimme des Lehrers. Sie diktiert der Klasse eine Kettenrechnung. Die Zwischenresultate dürfen nicht notiert werden. Ruth, meine Banknachbarin, stösst mich an. Du bist dran, flüstert sie. Gibt wieviel? wiederholt der Lehrer seine Frage. Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet nicht mehr. Klewenalp, sage ich. Alle lachen. Dann nenne ich irgendeine Zahl. Falsch, sagt der Lehrer. Ich gebe mir einen Ruck. Ich rechne mit den Wörtern. Jederzeit.

2 Kommentare

  • Michael Guggenheimer sagt:

    Ich kann noch heute nicht Kopfrechnungen in deutscher Sprache ausführen. Wenn ich beim allmonatlichen Zusammenzählen der Überweisungen die Zahlen still für mich aufsage, dann erfolgt das in meiner ersten Sprache. Das ist so geblieben. Und ich kenne andere Meschen, die in ihrer Kindheit mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind, denen es gleich geht. Sie leben hier, denken in deutscher Sprache, aber das Zählen erfolgt in ihrer esten Sprache. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Lehrer Herbener im Gymnasium in Zug ungeduldig vor der Klasse stand, mich anschaute und sagte: „Guggenheimer, haben Sie endlich die Übersetzung?“. Ja, noch heute muss ich beim Zusammenzählen einen kurzen Übersetzungshalt machen.

  • Barbara Pallecchi sagt:

    Kein Sommer ohne Tiki. So war das auch in meiner Kindheit. Neben den Münzen für den Eintritt ins Schwimmbad gab es einen Batzen für den Kiosk. Er reichte für ein Raketenglacé oder zwei Doppelpackungen Tiki. Zitrone oder Orange, ab und an Himbeer, Cola war meistens ausverkauft. Manchmal begnügte ich mich mit einem Tiki, behielt den Restbetrag, dafür gab es beim nächsten Mal ein Doppellutscherglacé.
    Zuwider war mir das Anstehen beim Kiosk. Die unbekleideten, dicht aneinander gedrängten, vor Ungeduld zappelnden Leiber, das Gemisch von Sonnencreme und Schweiss, barfuss auf dem klebrigen Betonboden, die Älteren, die sich mit verschorften Ellbogen vordrängten. Der Rückweg durch die nackte Menschenschar war noch schlimmer, sich zwischen den glitschigen Körpern herausdrängen, vorbei an Halbwüchsigen, die manchmal versuchten, einem die Süssigkeit aus der Hand zu schnappen und grölend davonzurennen.
    Ein überschäumendes Erleben dann auf dem Badetuch. Wir saugten an den Würfeln, liessen die Bröckchen langsam im Mund zergehen oder auch einen ganzen Würfel. Manchmal wagten wir es, steckten beide Würfel in den Mund und massen uns daran, wer die Explosion aus Schaum und Lachen länger zurückhalten konnte.
    Gegen den Durst ein Schluck aus der weissen Feldflasche mit dem gelben Becher. Hagebuttentee, der sonnengewärmt nach Kunststoff schmeckte.

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