29. Dezember 2021
Zwischen den Jahren
Als wäre diese Zeit endlos. Diese letzten Dezembertage. Als würde sich ein grosser Raum öffnen, durch den man stundenlang spazieren und alles nochmals anschauen könnte, was erst lose verpackt hier herumsteht. Als würde nochmals der ganze Tantentrupp anreisen, kommt zwischen Weihnachten und Neujahr, höre ich meine Mutter sagen, und sie kamen alle, sie brachten schon etwas trocken gewordenen Weihnachtskekse mit, Kölnischwasser, das sie selbst geschenkt gekriegt hatten und von dem es im Badezimmerschrank bereits jede Menge gab, brachten sie mit, Schokoladenbaumschmuck in Form von Tannenzapfen und Mäusen brachten sie mit und den Geruch ihrer Zuhause. Die wohnen alle in Mietshäusern, unglaublich, sagte meine Vater und schüttelte den Kopf, wo hängt ihr bloss die Wäsche auf, fragte Mutter und die Tanten lachten und sagten, meine Schwester und ich seien gewachsen, meine Schwester verdrehte die Augen und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, wir warteten beide auf Tante Gertrud, sie reiste stets als letzte an und brachte richtige Geschenke mit. Eine Salami und eine Lyonerwurst für die Mutter, damit was anderes als dieser ewige Süsskram auf den Tisch kommen würde, Wein und Zigarren für den Vater und für meine Schwester und mich je eine gemusterte Strumpfhose, einen Pijama und ein Buch, alles sorgfältig ausgewählt und weihnachtlich verpackt. Gertrud hatte keine Kinder, aber einen zweiten Mann, den wir nie zu Gesicht bekamen, ebenso wussten wir nicht, was mit dem ersten Mann geschehen war, gestorben sei er nicht, sagte meine Mutter, er lebe noch, und wie, fügte unser Vater an und verdrehte die Augen, von ihm hatte sich also meine Schwester dieses Minenspiel abgeschaut, und dann sagte er zu mir, komm und nahm mich bei der Hand und wir waren beide froh, dieser Tantenwirtschaft für eine Weile zu entkommen. Zwischen den Jahren nochmals mit dem Vater in den Wald gehen. Nachschau halten, ob sich jemand illegal einen Weihnachtsbaum beschafft hatte. Diese bedächtigen Schritte. Diese prüfenden Blicke, den Stämmen entlang bis hoch in die Kronen, das Befühlen der Baumrinde, manchmal das Klopfen, Vater konnte die Borkenkäfer hören, wenn sie an der Arbeit waren. Alles noch einmal. Ein einziges Mal noch. Der Lärm seiner Motorsäge. Die riesigen Schutzhandschuhe, die er sich übergestreift hatte. Und Hexe und Hänsel und Gretel und Wolf und Rotkäppchen und wieder die Motorsäge und jetzt taucht die Magd auf, sie bringt heissen Tee und Käsebrote und nimmt mich mit, nach Hause, bevor meine Füsse abfrieren, zuhause helfe ich ihr, ein paar Einmachgläser aus dem Keller zu holen, überhaupt die Vorräte im Keller und die Kartoffelkeime, die hochschiessen in die Zeit zwischen den Jahren und im oberen Stockwerk die ungemachten Betten, die Tanten sind abgereist und haben nicht mal die Bettwäsche abgezogen und deine schmerzenden Gelenke, Mutter, deine schwachen Gefässe, und auf dem Dachboden finde ich einen verstaubten Muff aus Pelz, er gehörte der Magd, nur gibt es hier keinen Dachboden, dafür Corona und Omikron und FFP2 Masken und die Katze des Nachbarn hat ein Geschenk deponiert vor der Tür. Ein wenig lebt der Vogel noch, aber ins neue Jahr fliegen wird er wohl nicht mehr. Aber wir, wir heben wohl oder übel ab, schon bald und hoffen alle auf eine sanfte Landung im 2022.
Wunderbar geschrieben, danke, liebe Theres!
Es ist, als sässe man selber in der Stube und höre mit, was die Tanten erzählen… man riecht es förmlich, und schaut belustigt dem Augenverdrehen der Schwester zu…und macht beim Vatermarsch durch den Wald mit, spürt die grosse Bewunderung für diesen aufrechten Mann, der selber wie die Bäume starke Wurzeln haben musste……und doch am Ende im Altersheim, wie die anderen Heimbewohner, unvorstellbar! in der Adventszeit Zimtsterne ausstechen musste…
Wunderbar! Wie lässt es Gerhard Meier Baur einmal sagen: “ Ich frage mich, Bindschädler, ob wir schlussendlich gelebt haben, um uns zu erinnern.“
Herrlich, liebe Theres!
Da kommen viele Erinnerungen zum Vorschein. Vorweihnachtstress, tagelanges Basteln, Geschenke an alle Patenkinder der Eltern verteilen.
Dann – endlich 24ter, eeewige Gelage im überheizten Gästezimmer… Der Christbaum, immer eine Pracht, stand wochenlang in der Veranda – ohne zu nadeln.
Danke, deine Texte sind immer tolles Kopfkino.
Liebe Grüsse und ein glückliches 2022!
Herzlich, Rita
Die Zeit zwischen den Jahren. Es kommen keine Tanten und keine Onkel zu Besuch. Aber eine Waldwanderung gehört zu diesen Tagen. Es sind die Tage, in denen kaum Mails ankommen. Es sind Lesetage. Und wie jedes Jahr nehme ich, Langsamleser, der ich bin, mir die Lektüre von zu vielen Büchern vor. Es sind die Tage, in denen ich die vielen Fotos des zu Ende gehenden Jahres nochmals anschaue. Und meinen Terminkalender des zu Ende gehenden Jahres blättre ich durch, stosse auf Begegnungen, die stattgefunden haben und auf Namen von Freunden, die ich in den letzten sechs Monaten nicht mehr gesehen habe. Es sind die Tage, an denen ich wieder Karten schreibe, die in einem Couvert verschickt werden. Anderen, die ich schon länger nicht getroffen und gesprochen habe, schreibe ich Mails und mache Vorschläge: Gemeinsam eine Ausstellung anschauen, zusammen spazieren gehen, zu zweit eine Wanderung unternehmen. Nein, Tanten und Onkel habe ich keine mehr. Und auch keinen eigenen Wald.
Michael, Deine viel sagenden Worte und Dein zwischen-den-Zeilen beeindrucken mich. Auch jetzt, im Juni.
Zum Glück ist es in der Schweiz immerhin erlaubt, in den Wäldern zu sein. (Erschrak ich schon ziemlich, als ich anno dazumal in Frankreich realisierte, dass diese oft „privat“ sind und man solche nicht betreten dürfe, einzig die offenbar wohlhabenden Besitzer das Recht dazu haben(?)
).
Alles Gute wünsch ich Dir, der Du ohne Tanten und Onkel und ohne eigenen Wald… „Lass Dich nicht unterkriegen“…