1. Mai 2020

„Tage mit Felice“ – eine Komposition der Stille

Es wäre nicht falsch, den eben in Deutsch erschienen Roman Tage mit Felice von Fabio Andina als passend zur ‚Coronazeit’ anzupreisen und jenen zu empfehlen, die Sehnsucht haben nach dem Tessin. Nur würde man damit dem Roman nicht gerecht, der übrigens im Original bereits 2018 unter dem Titel La pozza del Felice erschienen ist. Jetzt hat der Rotpunktverlag das preisgekrönte Werk zum Glück in Deutsch herausgebracht in seiner Edition Blau, hervorragend übersetzt von Karin Diemerling. 
Fabio Andina zeigt uns darin das Dorf Leontica im Bleniotal, er zeigt uns eine Landschaft mit Menschen, die hier schon immer lebten, karg, ohne viel Unterhaltung. Einmal ist ein Maultier ausgebüxt, das sorgt für Aufregung. Insbesondere aber zeigt das Buch eine Freundschaft zwischen einem jüngeren und einem alten Mann namens Felice, wobei, Freundschaft ist fast zu viel gesagt, denn die beiden Männer sprechen nie über das, was sie verbindet, sie sprechen ohnehin fast nichts. Der Jüngere ist der Ich-Erzähler, von dem wir bloss wissen, dass er als Kind viel Zeit im Tal verbrachte und die Umgebung gut kennt. Er hat den 90-jährigen Felice zu Beginn des Buches gefragt, ob er ihn ein paar Tage begleiten dürfe, um ein wenig so zu leben wie er. Felice geht barfuss, tauscht Pilze gegen Käse, besucht seine Nachbarn, fährt mit einem klapprigen Suzuki durchs Tal, kehrt kurz ein für ein Tagesmenü oder einen Espresso in der Bar, und vor allem geht er jeden Tag den Berg hoch, um in einer Felswanne, Gumpe genannt,  zu baden. Es ist Anfang November und schon ziemlich kalt.
Tage mit Felice ist in erster Linie eine Komposition über die Stille. „In der Tat ist Stille ein Element, das ich liebe, und es ist unwissentlich als Charakter im Buch aufgetaucht“, hat der Autor vor kurzem geschrieben. Unwissentlich. Wie schön, und ganz real. Denn es passiert fast nichts in diesem Buch. „Felice hat sein ganzes Leben lang als Maurer gearbeitet, das Bleniotal rauf und runter“, nur soviel wissen wir von ihm. Einmal wird er vom Erzähler eingeladen, mit ihm eine Ausstellung in Bellinzona zu besuchen, wo er seit ewiger Zeit nicht mehr war. Ansonsten steigt der ebenso wortkarge Erzähler jeden Morgen hinter Felice den Berg hoch, auch wenn erster Schnee liegt, auch er badet in der Gumpe, auch er macht die Sarina, den Sparherd an, und kocht einen Kräutertee und isst zusammen mit Felice Kaki, Marroni und Joghurt.
Eine unglaubliche Bedächtigkeit und eine Wertschätzung gegenüber Pflanzen, Tieren, der Natur überhaupt finden die Lesenden in diesem Buch. Achtsamkeit wäre wohl der richtige Ausdruck, wäre er nicht so abgegriffen und oft esoterisch aufgeladen. Denn mit Esoterik haben weder Felice noch die Dorfbewohner etwas am Hut, auch nicht mit Sozialromantik, dafür sind sie alle viel zu stark in der Realität verankert. Tradierte Rituale halten sie zwar zusammen, aber die Menschen leben keine Bergdorfidylle. 
Warum ein Buch lesen, in dem so wenig passiert? Ein paar Tage ziehen vorüber, wie die Wolken am Novemberhimmel, erster Schnee fällt und muss geräumt werden, aber der Autor beschreibt solche Vorgänge mit einer Intensität, dass man lesend hellwach dabei ist. Man geht mit den beiden Männern durch die karge Landschaft, tritt ein in schlecht beleuchtete Steinhäuser, ist dabei in der Bar, sitzt hinten im Suzuki und vielleicht springt man sogar in die Gumpe und staunt. Ein Buch, das ansteckt dazu, ganz alltägliche Dinge mit Bedacht auf sich wirken zu lassen. Am besten in der Stille.
Fabio Andina, ‚Tage mit Felice’, Edition Blau Rotpunktverlag, Zürich 2020, aus dem Italienischen von Karin Diemerling, Fr. 28.-https://rotpunktverlag.ch https://fabioandina.com

3 Kommentare

  • Heinz Gadient sagt:

    Auf das Buch freue ich mich. Flaubert hat einmal gesagt: „Es würde mir schön erscheinen, ein Buch über Nichts zu schreiben.“ Einer, dem das mehrmals gelungen ist, heisst Gerhard Meier. Bin gespannt, wie das Nichts bei Fabio Andina ausschaut.

  • barbara sagt:

    Liebe Theres. Ich war mir sicher, dass du über «Tage mit Felice» schreiben wirst. Ganz sicher. Heute ist es soweit. Ich juble. Laut oder leise? Würde ich in Leontica leben, dürfte ich laut johlen, grinsen – sogar blöd –, schmunzeln oder nicht dergleichen tun. Es könnte vorkommen, dass ich ausgelacht würde. Trotzdem würde ich dazugehören. Bis zum letzten Atemzug.
    In den Tagen mit Felice geht es um Verschiedenes. Nur nicht um das Nichts. Es geht um das Leben, das gelebt werden will, nicht selten gelebt werden muss, manchmal ausgehalten und durchlitten werden muss, manchmal gefeiert werden darf. Die Geschichte zeigt was alles da ist, wenn vermeintlich nicht viel los ist. Was alles zutage tritt. Schlicht, bescheiden und mit einer Sorgfalt, dass ich mich zuweilen kaum zu atmen traute, um ja nicht zu stören. Und es gibt Sätze wie, «Aber es stimmt, denke ich. Hier kehrt jemand heim». Sätze, in denen man das Buch für einen Moment in den Schoss legt.
    Wer dieses Buch nicht liest ist selber schuld. Und wer nach der Lektüre ins Tessin fährt, ist auch selber schuld. Sie oder er wird «es» nicht finden. «Es» ist nur beim Lesen zu finden, allein in der Stube – die niemand mehr so nennt–, in der Stille, in der allenfalls eine Minestrone auf dem Herd vor sich hingurgelt. Grazie mille, Fabio Andina.

  • angehrn debora sagt:

    Ach wie schön finde ich auch diesen Barbara-Text. Nebst all den andern von Theres natürlich, jedes Mal eine Freude. Danke sehr!

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