26. September 2019

Hand und Fuss

Mir tun die Füsse weh. Und plötzlich sind Füsse ein Thema. Eine junge Freundin hat mir kürzlich erzählt, ihre früh verstorbene Mutter sei Podologin mit eigener Praxis gewesen. „Als Kind“, hat sie sich erinnert, „besuchte ich sie oft dort. Ich spielte in einem Sessel Gameboy, während meine Mutter die Zehennägel ihrer Kunden wieder ansehnlich machte, eine Arbeit übrigens, die viel feinmotorisches Geschick und Feingefühl bedingt.“ Ich stelle mir das ungewöhnlich vor, eine Mutter gehabt zu haben, die sich zeitlebens mit fremden Füssen beschäftigte. Dauernd stolpere ich in jüngster Zeit über Fussgeschichten. Ein Freund hat sich neulich bei einem Sturz mit dem Fahrrad den Fuss gebrochen, ein zweiter hat sich sogenannte Hammerzehen operieren lassen müssen. Gegen solcherlei Unbill sind meine Fussschmerzen harmlos. Zu lange gewandert, ohne die vor ein paar Jahren von einem Orthopäden verordneten, teuren Einlagen in die Wanderschuhe zu legen. Selber Schuld. Aber mit den Einlagen sind mir die Wanderschuhe zu klein. Obwohl sie schon jetzt sehr gross sind und leider auch so wirken. Wie ich die mitleidigen Blicke des Verkaufspersonals hasse, wenn ich ein Schuhgeschäft betrete und mich ganz nach hinten begebe, zu den grossen Grössen. Die meist bei 42 aufhören. Wenn ich die Zehen einziehe, was mir auf den weichen Teppichen der Schuhgeschäfte problemlos gelingt, passen meine Füsse in eine 42. Aber ohne Einlagen. Die verstauben in einer Ecke des Schuhregals. Und wenn ich ein paar Tage später die neuen Schuhe anziehe und spazieren gehe, spüre ich bereits nach ein paar Schritten deutlich, dass meine Füsse immer noch nicht kleiner geworden sind. Vielleicht liegt es an den Socken, denke ich dann, obwohl ich weiss, dass ich die dünnsten überhaupt trage. In solchen Momenten fällt mir meine Mutter ein, die nicht an die Beerdigung ihres eigenen Vaters gehen konnte, weil sie keine Schuhe mehr hatte, in die hinein ihre geschwollenen Füsse noch passten, kein einziges Paar, sie war im achten Monat mit Zwillingen schwanger. Lange Zeit habe ich verdrängt, dass ich Senk-Spreizfüsse habe und deshalb als Kind stundenlang auf einem Stuhl sitzen und mit den Füssen hölzerne Rollen hin und her bewegen musste, eine Art Therapie wohl und eine Übung im Tagträumen. Und dass ich schon früh keine Kinderschuhe mehr tragen konnte, sondern klobige Halbschuhe für Erwachsene, weil meine Füsse so schnell wuchsen. Und jetzt, da mir die Füsse weh tun, erinnere ich mich wieder, dass meine Mutter oft mit weissen, blutfleckigen Verbändchen um ihre Zehen zurückkehrte, nachdem sie bei der Fusspflegerin gewesen war, die Frau Schuhmacher hiess. Mich erfreut immer, wenn Name und Beruf eine gewisse Verbindung eingehen. Hier im Dorf hatten wir einen Metzger namens Rinderli, bei dem ich gerne einkaufte, weil mich der Name erheiterte. 

Plötzlich sind Füsse ein Thema. Auch in der Literatur. Ich stelle mir vor, ich würde in Berlin Marzahn einen bestimmten Kosmetiksalon betreten und mir von der Autorin Katja Oskamp, die dort als Fusspflegerin arbeitet, meine Zehennägel in Ordnung bringen lassen. Ich stelle mir vor, dass ich mich als erstes für meine zu gross geratenen Füsse entschuldigen würde, genau so, wie sich alle Kunden für ihre Füsse entschuldigten, so erzählt Oskamp in ihrem Buch, das ein Report über Fusspflege und eine Gesellschaftsstudie zugleich ist. Bis auf den einen, der sich wirklich hätte entschuldigen müssen, da die Verwahrlosung seiner Füsse weit über das übliche Mass hinausgegangen sei und selbst die unzimperliche Oskamp zusammen zucken liess. Allerdings würde ich Katja Oskamp derzeit wohl kaum antreffen an ihrem Arbeitsplatz als Fusspflegerin, ist sie doch auf Lesereise mit ihrem erfolgreichen Buch ‚Marzahn mon amour’. Es enthält Geschichten ihrer meist älteren, vom Leben nicht verwöhnten Kundinnen und Kunden, Geschichten, eingekocht zu ab und zu bizarren, oft komisch-traurigen Porträts voller Empathie. Und wie und weshalb  die Schriftstellerin Oskamp den Beruf scheinbar gewechselt hat, ihn aber ganz offensichtlich und zum Glück behalten hat, ist eine Geschichte für sich, die auch im Buch steht. 

Die schönste Szene aber, die in einem Nailstudio spielt, habe ich vor kurzem im souveränen Romandebüt  ‚Auf Erden sind wir kurz grandios’ des 31 jährigen Ocean Vuong gelesen. Der Icherzähler im Roman beschreibt, wie er seine Mutter an einem Sonntag ins Nailstudio in Connecticut begleitet, wo sie arbeitet, und wie sie dort einer älteren Dame ihren Wunsch nach einer Pedicüre und einer Massage erfüllt. Zuerst beim gesunden Fuss, und dann beim imaginären Fuss und Unterschenkel, denn die Dame trägt eine Prothese. Sie könne aber da unten immer noch fühlen, auch wenn es dumm sei, erklärt sie. „Dann schlingst du (…) deine Finger um die Luft, wo ihre Wade sein sollte, knetest sie, als ob sie ganz da wäre. Du arbeitest dich hinab zu ihrem unsichtbaren Fuss, reibst seine hagere Oberseite, bevor du die Ferse mit der anderen Hand umfasst, die Achillessehne entlangkneifst, dann die steifen Stränge an der Unterseite des Knöchels dehnst. (…) Ohne ein Wort lässt du es (das Handtuch, Anm. TRH)  unter das Phantomglied gleiten, tupfst die Luft ab, während das Muskelgedächtnis deiner Arme die vertrauten effizienten Bewegungen abruft, sichtbar macht, was nicht da ist, so wie die Bewegungen eines Dirigenten die Musik realer wirken lassen.“
Zwei sehr unterschiedliche Bücher, die, finde ich, beide Hand und Fuss und noch viel mehr haben. Und wie leichtfüssig sind Sie unterwegs – im Leben und in den Büchern?

4 Kommentare

  • Heinz Gadient sagt:

    In unserem Dorf hat der Kaminfeger Herr Rüttener gelebt. Nach einem Unfall mussten ihm beide Beine amputiert weden. Er bekam zwar Prothesen, aber es zog es vor von nun an meist auf den Händen zu gehen. Darin brachte er es zur wahren Meisterschaft. Seine Glanznummer war, im Handstand von einer Telefonkabine zu springen. Für die jüngeren Leute: Eine Telefonkabine war ein gut zwei Meter hohes Glashäuschen, oder eben eine Kabine, in der ein Münztelefon montiert war und nach dem Einwurf von Münzen konnte man telefonieren. Nein, eine Kamera für Selfies war nicht montiert.

  • Barbara Pallecchi sagt:

    Vor drei Jahren liess ich mir die Zehennägel leuchtend rot anmalen. Einen Tag vor der Abreise in ein Schreibseminar am Gardasee. Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, meinen Füssen eine ordentliche Erscheinung zu geben. Bis dahin hatte ich ihnen nur wenig Beachtung zukommen lassen solange sie keine Blasen entwickelten, sich schälten oder schmerzten. Ich fand meine Zehennägel hässlich und trug selten Schuhe, die vorne offen waren. Als junge Frau versuchte ich wenige Male, sie zu lackieren. Ich fand es anstrengend, mühsam und das Ergebnis war immer unbefriedigend.
    Für diese erste professionelle Pedicure in meinem Leben meldete mich bei einem Fachgeschäft an, das sich Institut für medizinische Fusspflege nennt und ausgebildete Podologinnen beschäftigt. Ich war überzeugt, dass ich ein schwerer Fall war was meine Füsse anbelangt. Nach einer Stunde schneiden, raspeln, feilen, massieren, pudern und eben lackieren fragte mich die Podologin, „gefällt es ihnen so?“ Es mag übertrieben klingen, aber ich war entzückt. Ich konnte kaum glauben, dass das meine eigenen Füsse waren. Im Alter von 53 Jahren sah ich zum ersten Mal schöne Füsse an mir. Ich war so beglückt, dass ich sie unter die lila-violetten Petunienblüten auf unserem Balkon schob, ein selfie machte und es meinem Mann schickte. Auch er war entzückt. Seitdem gehe ich im Sommer alle paar Wochen zur Pedicure und trage mit Vergnügen Sandalen und Flipflops. Ich gebe es zu, ein Blick auf meine Füsse kann mich manchmal sogar aufheitern.
    Während ich das schreibe frage ich mich, warum ich mich vor diesem Schreibseminar für die Pedicure entschied. Kein Hochzeitsfest, keine Geburtstagsparty, keine Reise in warmem Klima hatte mich zuvor dazu bewegen können. In jenem Seminar am Gardasee entstanden die ersten Passagen des Romans an dem ich arbeite. Ich hatte einen Satz, der die vage Vorstellung ausgelöst hatte womit sich die Hauptfigur beschäftigen würde, es gab ein Kind, ein Haus, mehr nicht. Mittlerweile weiss ich, dass sie so gut wie immer lackierte Zehennägel hat, zumindest bis zu ihrer Krise, die sie in einem Sommer durchlebt. Ich lerne viel von ihr, sie zwingt mich, ihre Abgründe zu betrachten, sie ist schonungslos, oft überfordert sie mich mit ihren Gedanken und mit ihrem Verhalten. Vielleicht verführte sie mich mit den lackierten Füssen, über sie zu schreiben. Sollte es so gewesen sein, habe ich nichts dagegen. Jede Verführung, die zu einer interessanten Auseinandersetzung führt, ist mir recht. Den Roman habe ich noch nicht. Aber rot lackierte Zehennägel und die Meinung, schöne Füsse zu haben.

    • Theres sagt:

      Liebe Barbara, wunderbare Geschichte, vielen Dank! Zwei Sachen dazu: Mit 64 Jahren wusste ich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben, wie es ist, wenn man zu grosse Schuhe trägt. Das Gegenteil kannte ich sehr sehr gut. Ich war in Hamburg in einem Spezialgeschäft, das sich ausschliesslich an Kundinnen und Kunden mit grossen Füssen richtete. Ich blieb lange dort, der Laden war eine Art Schuhhimmel für mich. Und zweitens: lies unbedingt ‚Marzahn mon amour‘ von Katja Oskamp. Der Blick der Autorin auf die Füsse ihrer Kundschaft öffnet ganze Lebenskontinente. Sogar der Herr Ebel hat das Buch empfohlen im Literaturclub!

  • Gerda Lacher sagt:

    Liebe Theres, vor knapp 10 Jahren besuchte ich deinen Schreibkurs im Rahmen der Klubschule M-ART in Luzern. Und jetzt sehe ich deinen Namen im Jahresprogramm 2020 Lassalle-Haus „Im Alter neuen Sinn suchen..“ – immer interessantes Thema. So fand ich auch deinen Blog, hab mich sofort eingetragen. Deiner Rezension über Katja Oskamp stimme ich voll zu und hab mein Buch sofort einer Schulfreundin weitergegeben, die zeitlebens Fusspflegerin war. Herzliche Grüsse von Gerda Lacher, Hütten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Blog via Email abonnieren

Gib deine E-Mail-Adresse an, um diesen Blog zu abonnieren und Benachrichtigungen über neue Beiträge via E-Mail zu erhalten.

Loading

Deine Daten werden ausschliesslich für den Newsletter verwendet. Mehr dazu findest du in der Datenschutzerklärung.