22. September 2023

Ff

«Die Wahrheit ist, dass Geschichten nie enden. Schriftstellerinnen und Schriftsteller müssen Enden finden.» Das sagt die Autorin Deborah Levy in einem Interview (Das Magazin Nr. 36, 09. 9 2023, Interview von Nina Kunz und Simona Pfister) und ich pflichte ihr gerne bei. Geschichten haben immer Fortsetzungen, erzählte und nicht erzählte. Das Erfinden von Enden finde das Schwierigste am Schreiben, und schon als Kind waren die beiden Buchstaben Ff am Ende eines Buches eine Verlockung: Es würde einen nächsten Band geben! Und täglich freute ich mich auf die Fortsetzung des Vorabdruckes eines Romans in der Tageszeitung, unter der auch die beiden magischen Buchstaben Ff standen. Hier gebe ich der Ff-Verlockung nach, indem ich die Geschichte meiner ersten Lektüre fortschreibe. 
Liebe Sophie Gasser, du stehst zu Beginn meiner Lesebiografie. Als ich sechs Jahre alt war, schenkte mir meine Patin zu Weihnachten mein erstes eigenes Buch: ‘Bärbeli’, von dir verfasst und 1954 erschienen als erster Band der Trilogie: ‘Bärbeli’, ‘Was wird mit Bärbeli’, ‘Aber Barbara’. Ich musste jeweils ein ganzes Jahr warten, bis ich den nächsten Band erhielt. Natürlich las ich unter dem Jahr auch andere Bücher aus der Schulbibliothek, aber meine Sehnsucht nach der Fortsetzung von ‘Bärbeli’ wuchs stetig. Zwar hatte ich mir schon viele Versionen davon selbst ausgedacht, denn Abend für Abend war ich Bärbeli, hatte keine Mutter und lebte bei Tante Regine. 
Liebe Sophie Gasser, ich recherchiere dein Leben. Du warst die Tochter eines Landwirtes. Der im Zürichsee ertrank, als du drei Jahre alt warst. Dann verkaufte deine Mutter den Hof und zog mit dir und deiner Schwester in die Stadt. Du hast aus mir eine Leserin gemacht und mein Leben früh bereichert. Weil ich eine Freundin hatte. Bärbeli. Ich redete mit ihr. Ich taufte meine Puppe Barbara und noch heute, wenn ich Frauen mit diesem Namen kennen lerne, bringe ich ihnen Vorschusssympathie mit. Bärbeli hatte eine Katze. Den Peterli. Und eine Puppe. Und ich hatte Bärbeli, eine Katze, eine Puppe und nach drei Jahren drei eigene Bücher. Meine Patin war Tante Regine. Nur wohnte sie nicht im Seehaus, sondern in einem winzigen Häuschen, sie hatte neun Kinder, fünf eigene und vier, die schon da waren, als sie Jean geheiratet hatte. Sie war eine kleine, dünne Person, die tagsüber schuftete für ihre Familie und abends und nachts viel las. Sie starb mit 49 an den Folgen eines Autounfalls, nach dem sie neun Monate im Koma gelegen hatte. Ich war damals fünfzehn und hatte sie nie besuchen dürfen im Krankenhaus. Aber manchmal hole ich diese Besuche nun nach. Ich lese ihr vor. Aus Bärbeli. Ich bin sechs Jahre und fünfzehn und neunundvierzig und bald siebzig Jahre alt. Und meine Patin liegt da. Im Koma. Vielleicht im Wachkoma. Vielleicht lauscht sie den Geschichten. Ich bringe auch dich mit, Sophie Gasser. Du sitzest mit mir im Krankenhauszimmer. Und später, in der Cafeteria erzählst du mir, wie es war, als du mit einundvierzig, nachdem du fünfundzwanzig Jahre lang bei der eidgenössischen Post-, Telefon- und Telegrafenverwaltung gearbeitet hast, mit deinem Mann nach Innsbruck zogst, mit dem du schon sieben Jahre verheiratet warst. Konntest du dort ungestört schreiben? Denn geschrieben hast du schon immer. Die ersten Gedichte mit dreizehn, vier Jahre später hast du die Gedichte publiziert. Mit fünfundzwanzig Jahren hast du einen Förderpreis für Lyrik der Schweizerischen Schillerstiftung erhalten, 1950 den Preis für die beste Jugendgeschichte des Jahres in Wien. 
Liebe Sophie Gasser, ich habe deine Trilogie vor kurzem antiquarisch wieder gekauft und sie nochmals gelesen. Mit den Augen von heute trieft die Story vor Kitsch, Klischees und Moral. Aber was ich daran immer noch mag: Du hast deine Hauptfigur Bärbeli facettenreich dargestellt. Ihre Widerborstigkeit, ihren Trotz, ihr Ungestüm. Ihre Zugewandtheit zu Pflanzen und Tieren und vor allem zu Geschichten. Deine Hauptfigur war nicht bloss ein braves, angepasstes Mädchen, vielmehr stand sie innere Kämpfe aus, Gewissensbisse überkamen sie, wenn sie in besinnungsloser Wut Dinge angestellt hatte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Bärbeli hatte früh die Mutter verloren. Du selbst den Vater. Die Autofiktion beginnt nicht erst im 21. Jahrhundert, liebe Sophie, gewiss nicht, Ff., danke dir.

PS: Ich habe mich noch anderweitig und mit deutlich mehr Konsequenzen hinreissen lassen zu Ff… mehr sei hier nicht verraten.
PPS: An der Buchvernissage zu «Damenprogramm» – mein Adrenalinspiegel ist nun wieder unten, auch die toxische Mischung von Weisswein und Eierlikör ist abgebaut – bekam Ff noch eine andere Bedeutung: Freundlich-frech altern… gutes Vorhaben, nicht? 

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