16. März 2021

Interkontinental

Die Scheu davor, Kontakte zu löschen, die es nicht mehr gibt. Also, endgültig nicht mehr gibt und nicht, weil man sich zerstritten oder aus den Augen verloren hat. Gestern in den Handykontakten drei Nummern gelöscht, die ich nie mehr anrufen kann. Am längsten habe ich Ruths Nummer aufbewahrt. Sie ist vor sieben Jahren verstorben. Ihr Lachen habe ich nicht gelöscht, auch nicht ihre dichten schwarzen Locken und ihre Vorliebe für rote Kleider. Nicht ihre paar Kilos zu viel, die ihr so gut standen und ihre Gesichtshaut so straff erschienen liessen wie die eines jungen Mädchens. Bloss ein paar Zahlen habe ich gelöscht, nicht aber Ruths Blick, nicht ihre Art, wie sie sich meldete am Telefon, nämlich mit ihrem Nachnamen, dem sie ein fragendes Hallo folgen liess. Auch ihre Empörung und ihren hellen Zorn habe ich nicht gelöscht, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte, nicht ihre Ungeduld und ihr ewiges Zuspätkommen, das mich immer wieder geärgert hat. Nur ein paar Zahlen, nichts sonst, habe ich gelöscht, auch nicht meine Trauer, dass ich mit Ruth nicht mehr Kaffee trinken kann im Starbucks, wo wir über Stunden gesessen und geredet hatten. Die Trauer bleibt. Mit meiner Mutter kann ich schon mehr als siebenundzwanzig Jahre nicht mehr telefonieren, nur figurierte sie nie unter Kontakten, als sie starb, gab es noch keine Handys.  
Kontakte zu löschen erscheint mir ähnlich wie auf dem Friedhof ein Grab zu räumen, nur, dass es dazu genau bestimmte Fristen gibt, festgeschrieben im „Reglement für das Friedhofs- und Bestattungswesen“. Im Friedhofskreis in R. beispielsweise beträgt die Grabesruhe bei Urnenbestattungen zehn Jahre, so steht es im Reglement. Und nachher müssten „infolge Ablauf der Grabesruhe“ die Grabstätte geräumt und das Grabdenkmal sowie die Bepflanzung entfernt werden, und das innerhalb von drei Wochen. Nach Ablauf dieser Frist verfüge die Friedhofsverwaltung über die nicht entfernten Gegenstände und Pflanzen (ohne Kostenfolge). Himmelschreiend erscheint mir der Ton dieses Reglements. Soll man darüber lachen oder weinen? Ruth und ich, denke  ich, hätten gelacht. Jetzt aber weiss ich, dass ihr nur noch drei Jahre Grabesruhe bleiben, bis auch ihre Frist abläuft.
Warum erzähle ich das? Warum erzähle ich von Ruth? Ich habe in einer eher düsteren Stimmung und bei garstigem Wetter das neue Buch von Urs Faes gelesen, ‚Untertags‘ (Roman, Suhrkamp 2020). Und dort habe ich den wunderbar tröstlichen Satz gefunden: „Nur im Erzählen kehrt das Leben zurück“. Also! Lesen Sie dieses Buch. Es handelt vom sich Verlieben, von zärtlicher Zuwendung und einem langsamen und unfreiwilligen Verschwinden. Es beginnt damit, wie Herta, Hauptfigur im Roman, die Asche ihres geliebten Jakovs aufteilt in zwei Urnen. Die eine muss in die USA verschickt werden, die andere vergräbt Herta an einem zürcherischen Waldrand hinter einer Kastanie. In oft heiterem Ton und souverän komponiert zeigt der Roman, wie Jakovs Gedächtnis verrutscht und versinkt und gleichzeitig geflutet wird von Verdrängt-Traumatischem. Das Buch handelt aber auch von Hertas sich Verwundern und Vergewissern, dass Verbindungen über Kontinente hinweg möglich sind. Vielleicht ist ja auch das Jenseits einer dieser Kontinente.  

3 Kommentare

  • Nellirasante sagt:

    Wunderbar einmal mehr, dein blog, der so vieles miteinander verknüpft:
    die „ kontakte-lösch-story“ ist soo genial geschrieben. du schaffst es immer wieder, aus wörtern bilder zu formen, man sieht lebendige figuren, die aus einer nummer heraus entstehen…
    und dass ich zufällig das gleiche buch lese und wie du mit jakov nicht verstehe wie man langsam aus dem leben fällt, zufall?

  • katharina sagt:

    Genau dies empfinde ich auch bei deinen Texten liebe Theres!Deine Erinnerung an Ruth macht sie gleich lebendig und ich hätte sie auch gerne kennen gelernt!
    Dieses seltsame Gefühl erlebe ich jeweils auch, wenn ich Adressen aus dem Verzeichnis von Verstorbenen „ausradiere“. Dieses Wort allein tönt unfreundlich…
    Margrit, eine AEB-Kollegin war die letzte, deren Adresse ich wegradierte. Wenn ich an sie denke, erinnere ich mich an den Telefonanruf ihres Ex-Mannes, der mir vom letzten Tag berichtete. Margrit hätte alle ihre Geschwister eingeladen und sie wünschte zusammen zu singen. Am andern Morgen sei sie friedlich eingeschlafen für immer.
    Ich freue mich auf das Buch von Faes und noch mehr auf Deines!

  • Barbara sagt:

    Liebe Theres, ich danke dir für deine wohlersonnene Wort- und Gedankenpreziose. Der Text beginnt im Leben und endet im Leben, auch wenn der Tod darin vorkommt. Weil du etwas aufgreifst, mit Erinnerungen und Gedanken anreicherst, wir nehmen es auf, fügen eigene Erlebnisse dazu, spinnen weiter und setzen unser Leben mit dem neuen Sinngeflecht fort.
    Auch mir ist sofort ein Löscherlebnis eingefallen. Es dauerte lange, bis ich die Nummer von A. löschen konnte. Bei jedem Versuch hatte ich augenblicklich ihre Stimme im Ohr, etwas in mir sträubte sich, schien an dieser Verbindung festhalten zu wollen, einfach für den Fall, der nie eintreten würde. Am Ende schaffte ich es doch, sie zu löschen, zusammen mit der Nummer ihres Bruders, mit dem ich einst zusammengelebt hatte. Er starb, da war A. schon sechs Jahre tot. Seine Stimme höre ich nur noch in einem einzigen Wort, alles andere löschte mein Gehirn, ohne dass es mich in roter Schrift fragte, ob ich den Kontakt wirklich löschen will. Hätte es mich gefragt, hätte ich abbrechen angetippt. Weil jede Stimme zählt.

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